Wolfgang Herzberg. Jüdisch und Links

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Eine Buchbesprechung von Wolfgang G. Vögele

Der Berliner "Vergangenheitsverlag" ist ein Publikumsverlag für historische Sachliteratur und fühlt sich der Aufklärung und Demokratie verpflichtet. Er wurde 2008 von dem promovierten Historiker Alexander Schug gegründet. Zu seinem Programm gehört auch jüdische Geschichte. Kommunismus und Sozialismus scheinen seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion dermaßen diskreditiert, dass sich nur noch Historiker ersthaft dafür interessieren. Die sinkende Wählerzahl der deutschen Linkspartei zeigt, dass man dieser nicht mehr zutraut, die nach wie vor bestehenden und verschärften sozialen Probleme zu lösen. 

Der Verlag nennt Herzbergs Buch "Jüdisch und Links" mit Recht "provozierend". Es ist keine ausschließlich historische Abhandlung, es enthält auch eigene Gedichte und Liedtexte des Autors aus allen Lebensabschnitten, die die inneren Befindlichkeiten und äußeren Verhältnisse der Autors widerspiegeln.

Geboren wurde Wolfgang Herzberg 1944 in Leicester als Sohn jüdisch-deutscher Emigranten, 1947 kehrte er mit den Eltern nach Westberlin zurück und übersiedelte 1950 nach Ostberlin, wo seine Eltern bald prominente Funktionen in der DDR ausübten. Herzberg ist nicht nur Verfasser historischer Dokumentationen, sondern auch Autor von Gedichten und Songtexten und Dokumentarfilmer. Beiträge von ihm erscheinen regelmäßig in der pazifistischen 2-Wochenschrift "Ossietzky", der ehemaligen "Weltbühne". Viele Texte der bekannten Ostdeutschen Rockband Pankow, deren Frontmann sein Bruder Andre Herzberg ist, stammen ebenfalls von ihm. 

Wolfgang Herzberg ist ein linker jüdischer Atheist aus gutbürgerlichem Elternhaus. Er weist nach, dass seit der Wende 1989 westdeutsche Historiker aus Unkenntnis und Vorurteil Geschichtslügen und Zerrbilder über die DDR verbreiteten, besonders was die Juden in der DDR betraf. 

Der Widmung an seine Eltern fügt er hinzu, in der DDR sei eine antifaschistische Kultur entstanden, die bis heute wirksam sei. "Dennoch sitzen die Rechten, als starke Oppositionskraft, hier und anderswo wieder in den Parlamenten und marschieren, gewaltbereit, auf den Straßen, und auch deutsche Waffen werden erneut schamlos gegen Russland eingesetzt." Auch deshalb gelte es, das wertvolle Erbe aller Antifaschisten im 20. Jahrhundert nicht zu verdrängen und abzuwerten, sondern immer wieder kritisch zu würdigen und weiterzuentwickeln. Das sei für eine humane Zukunftsgestaltung unverzichtbar.

Im ersten Teil des Buches lesen wir die Lebenserinnerungen seiner Eltern. Sein Vater Hans Herzberg (1921-2015) besuchte drei Jahre lang die Freie Waldorfschule Hannover (S. 157 ff.)

Der Anthroposoph Uwe Werner, der mit Herzberg korrespondierte, hat in seiner gründlichen Studie "Anthroposophen in der Zeit des Nationalsozialismus" (1999) belegt, dass diese Schule bereits 1937 geschlossen worden war. Was Hans Herzberg über das Fach "Rassenkunde" erzählt, betraf die Zeit der zwangsweisen Umschulungskurse, die unter der Leitung von Maria Ilse bis April 1939 durchgeführt wurden (Uwe Werner, S. 227). Werner hatte 1997 mit Herzberg korrespondiert, der über seine Waldorfzeit schreibt: "Wir (jüdischen Schüler) waren voll integriert." Hans Herzberg sah Rudolf Steiner in der Tradition des Humanismus stehend.1 Er nahm nach dem Zweiten Weltkrieg auch an Klassentreffen seiner ehemaligen Schule teil: "Es gab einen Empfang für den verlorenen Sohn. Sie begrüßten mich mit einem Lied, und die Frau eines ehemaligen Schulkameraden hatte extra für mich koscheres Essen zubetreitet. […] Es herrscht eine tolerante und freundschaftliche Atmosphäre. Was will man mehr?" (S. 159)

Seiner Mutter Ursula Herzberg (geb. 1921), die in der DDR als Staatsanwältin arbeitete, war nie der Gedanke gekommen, die DDR zu verlassen oder gar nach Israel zu gehen, denn sie war überzeugt: Wenn man die DDR verändern und einen wirklich demokratischen Sozialismus erreichen wolle, müsse man das innerhalb der DDR tun. Vor allem auch als SED-Mitglied. Die gewaltsame Unterdrückung des Prager Frühlings hat sie erschüttert. Die Wende 1989 musste sie wie eine Zwangsvereinigung empfinden. Wie viele Ostdeutsche trauerte sie dem nach, was in der DDR besser war, z.B. eine geringere Kriminalität. (S. 113) Ursula Herzberg starb 2008 in einem anthroposophischen Krankenhaus. (S. 368).

Nicht erwähnt wird Rolf Henrich, der Rechtsanwalt und ehemalige DDR-Dissident, der an der Gründung des "Neuen Forums" mitwirkte. beteiligt war. Nach Erscheinen seines Buches "Der vormundschaftliche Staat" (Frühjahr 1989 in der BRD erschienen) bekam er in der DDR Berufsverbot. Unter anderem hatte er darin auch auf Rudolf Steiners Dreigliederung des sozialen Organismus hingewiesen. Später hat er die Freien Waldorfschulen in den neuen Bundesländern juristisch begleitet.

Das Buch enthält neben den autobiographischen Texten der Mutter und des Vaters die eigenen Erinnerungen Wolfgang Herzbergs. Es sind also drei unterschiedliche Sichtweisen, die aufzeigen, wie Juden sich mit der ehemaligen DDR identifizierten. 

Charlotte Misselwitz schreibt am 23.1.2023 in der Berliner Zeitung über das Buch: "Die Erinnerungen ostdeutscher Juden unterscheiden sich fundamental von jenen westdeutscher Juden. Viele von ihnen hatten weniger Bedenken, ins Land der Täter zurückgekehrt zu sein. Ihrer Meinung nach lebten sie in einem sozialistischen Staat 'gegen Deutschland'. Sehr polemisch greift Wolfgang Herzberg im letzten Viertel des Buches das bisherige Fehlen dieser Identifikationen in der deutsch-deutschen Geschichtsschreibung auf." Westdeutsche Klischees im Diskurs seit 1989 hätten "jüdische Familien, die in der DDR lebten, vielfach emotional verletzt und abgewertet". Herzbergs Eltern hätten privilegierte Stellungen gehabt (die Mutter als Jugendstaatsanwältin, der Vater beim Auslandssender Berlin international). "Der Sohn belegt mit langen Namenslisten, dass jüdische Überlebende führende Positionen in Kultur und Medien innehatten und er weist nach, dass sie "den Kern der SED-Parteiintelligenz" ausmachten." **

Wolfgang Herzbergs eigene Erinnerungen weisen eher DDR-kritisches Gepräge auf. Schwerpunkt ist die Zeit nach 1989, in der er die Existenzkrisen vieler Ostdeutscher schildert. Seine eigene Arbeit als Selbständiger wurde immer schwerer, zweimal verlor er seine Wohnung durch Privatisierungen. Er zeigt Zusammenhänge zwischen westdeutschem Antikommunismus und Antisemitismus auf und stellt fest, dass die Lebensleistungen ostdeutscher Juden marginalisiert und abgewertet worden seien.

Im Januar 2023 veranstaltete die Rosa Luxemburg Stiftung eine Lesung mit Herzberg und im Februar stellte er sein Buch im Synagogenverein Eisleben vor.

Von aktueller Bedeutung ist W. Herzbergs dem deutschen Mainstream völlig entgegengesetzte Haltung zum Ukrainekrieg. Die deutsche Ampelregierung handele nicht souverän, sondern unterwerfe sich strikt dem US-Narrativ, nach dem Russland militärisch besiegt werden müsse. Den außenpolitischen Kurswechsel der Linkspartei erwähnt Herzberg allerdings nicht. Die Mehrheit der deutschen Linken schließt sich heute der bellizistischen Außenpolitik der deutschen Regierung an.

Der letzte, aktuellste Teil des Buches (S. 395- 486) besteht aus einer essayistischen Streitschrift "Zur Kontroverse um Juden in der DDR und ihr kulturelles Erbe". Ihre Polemik zielt gegen den nach seiner Auffassung juristisch unhaltbaren Prozess der Wiedervereinigung, in dem mit brutaler Rücksichtslosigkeit Millionen von Lebensläufen entwertet worden seien. Eine neue Verfassung für die vereinigten Teile Deutschlands, über die laut Grundgesetz bei einem Volksentscheid abgestimmt werden sollte, wurde nie realisiert. Die bundesdeutsche Politik hätte in in Kolonialherrenmanier agiert.

Herzberg gesteht zwar die restriktive Kulturpolitik der DDR im Hinblick auf die Übersiedlung prominenter Juden in die BRD ein, doch er übt auch Kritik an den verbreiteten westlichen Narrativen, die den vielfältigen Beitrag vieler DDR-Juden zu einer friedlichen europäischen Nachkriegsordnung (so waren Juden bei den KSZE-Beschlüssen beteiligt) noch immer ausblenden oder abwerten. 

Die Arroganz des Westens nach der Auflösung des östlichen Machtblocks nach 1989, so sein Fazit, sei nicht zu leugnen. Die Wessis fühlten sich als Sieger der Geschichte.

Herzberg spricht von verlogenen und egalisierenden Stereotypen und nennt als Beispiel die im Westen übliche Gleichsetzung der "beiden deutschen Diktaturen", die er wie der Historiker Klaus Dietmar Henke ablehnt. Er stimmt Wolfgang Wippermann zu, der über die Einseitigkeit westlicher Historiker sagte: "Die Dämonisierung der DDR und die Relativierung des Dritten Reichs sind zwei Seiten des gleichen geschichtspolitischen Revisionismus." (455)

Die Behauptung, die DDR sei ein "Unrechtsstaat" gewesen, kontert Herzberg mit der Aufzählung von sozialen Errungenschaften, deren Schattenseiten er gleichwohl nicht leugnet. Dazu gehören:

  • Enteignung und vielfache Bestrafung jener Funktions- und Wirtschaftseliten, die das NS-Regime unterstützt hatten.
  • Bodenreform: mit Grund und Boden konnte nicht mehr spekuliert werden.
  • Erhebliche Zurückdrängung der sozialen Spaltung und der Kriminalität durch bessere Arbeits- und Lebensbedingungen.
  • Widerstandskämpfer (und damit auch jüdische Überlebende) übernahmen wichtige Führungsaufgaben.
  • Entstehung einer humanistischen Kultur und Kunst, die die Defizite der DDR vielfach auch benannte und damit zu 1989 beitrug.
  • Arbeiter- und Bauernkinder (aber auch Kinder jüdischer Familien) konnten kostenlos studieren.
  • Ökonomische und soziale Gleichbeechtigung von Männern und Frauen.
  • Weitgehende Beseitigung von Obdachlosigkeit, Arbeitslosigkeit, Wohnungslosigkeit. Bezahlbarer Wohnraum und Gesundheitswesen für alle.
  • Friedenspolitik: Völkerfreundschaft, insbesondere zu den Sowjetvölkern, Die Nationale Volksarmee war im Gegensatz zur Bundeswehr an keinem Krieg beteiligt
  • Trennung von Kirche und Staat
  • Besondere Förderung von Minderheiten (Juden, Sorben)
  • Das Menschenbild wurde nicht von egoistischem Profitstreben beherrscht.

Diejenigen, die vom "freien Teil Deutschlands" sprechen, fragt er: Hatte die "freiheitlich-demokratische Grundordnung" (FDGO) der BRD keine Schattenseiten? Die systemimmanenten Krisen des Kapitalismus verspreche jedenfalls keine überzeugenden stabilen und humanen Zukunftsaussichten.

Der Autor bringt Beispiele für den verordneten Antikommunismus und Russenhass in der BRD während des Kalten Krieges. Darüber wurde bekanntlich auch im vielgeschmähten "Schwarzen Kanal" viel gesprochen, doch kann der Rezensent als "gelernter Wessi", Jahrgang 1948, diesen Hass aus eigenem Erleben nur bestätigen. 

Deutlich wird, dass auch W. Herzberg wie viele die Ohnmacht des Nichtgehörtwerdens spürt, da in Deutschland eine freie Debattenkultur immer mehr eingeschränkt werde. Auf seiner Webseite bringt er ein pessimistisches Gedicht über den Zustand Deutschlands, das ein wenig an Heinrich Heines "Nachtgedanken" erinnert. Er vermisst Solidarität, die es in der DDR noch gab. Andersdenkende, z.B. Pazifisten, könnten sich nur noch am rechten und linken Rand der Parteienlandschaft artikulieren. Die steigenden Umfragewerte der AfD spiegelten den Vertrauensverlust der Deutschen in die Scholz-Regierung, deren Außenpolitik deutlicher denn je zeige, dass wir im globalen Wettbewerb nur noch eine Marionette der USA seien. In "Ossietzky" publizierte Herzberg einen Offenen Brief an Olaf Scholz (auch hier bei TdZ veröffentlicht.) Ob es Herzberg und seinen Mitstreitern gelingt, eine unverzerrte Erinnerungskultur zu etablieren, die sich wirksam rechtsextremen Tendenzen widersetzt, bleibt abzuwarten. 

[Bedauerlicherweise zeugen zahlreiche Druckfehler von flüchtigem Lektorat. Ein Namensverzeichnis wäre wahrscheinlich zu umfangreich geworden, da der Autor in seinem 500-seitigen Text bereits zahlreiche Namen nennt.]


Wolfgang Herzberg
Jüdisch & Links 
Erinnerungen 1921-2021. Zum Kulturerbe der DDR. 2., aktualisierte Auflage

25,00€ 
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Foto: © Vergangenheitsverlag

Anmerkungen: 

* Anthroposophiekritiker aus der «Skeptikerszene» halten Versuche, Steiner als Humanisten darzustellen, für Schönfärberei. Steiners Ideologie enthalte menschenverachtende, rassistische und antisemitische Züge. Dass Anthroposophen u.a. wegen ihres Internationalismus und Pazifismus von den Nazis bekämpft wurden, blenden sie dabei meist aus.

** https://www.berliner-zeitung.de/kultur-vergnuegen/literatur/berlin-sachbuch-erinnerungen-osten-juedisch-und-links-wolfgang-herzberg-erzaehlt-von-seiner-familie-in-der-ddr-li.308518

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