Zeitenwende – Zeiten Wenden?

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von Michael Mentzel 

Das Buch beginnt mit einem "Spaziergang" durch die Republik. Ulrike Guerot berichtet von den Anfängen ihrer politischen Karriere, sie beschreibt die Stationen ihrer Tätigkeiten, wie sich diese nach und nach entwickelt haben und was sie in den vergangenen Jahren erlebt und erlitten hat. Der abrupte Abbruch ihrer Tätigkeit an der Bonner Universität, die ihr wegen angeblicher Plagiate gekündigt hatte, brachte ihr unverhoffte Begegnungen mit sehr unterschiedlichen Menschen und deren Gedanken ein, die etwas in ihr ausgelöst hätten und das sie so beschreibt: "Es ist, als hätte ich mein Land erst jetzt richtig kennengelernt". 

I Zeitenwende. Was soll das sein?

Im weiteren Verlauf entwickelt sich der Spaziergang zu einer veritablen Wanderung durch die Niederungen der gegenwärtigen Politik. Ulrike Guerot konstatiert eine derzeit grassierende Geist- und damit auch eine Sinnlosigkeit, hervorgerufen durch das "strukturierende Phänomen der augenblicklichen Zeitenwende". Wo ist oben, wo ist unten, wo rechts oder wo links? Und vor allem, wo bleibt die Vernunft? Über den Wolken oder unter dem Teppich, unter den alles gekehrt wird, was einmal unsere Demokratie ausgemacht hat? Otto-Normal-Tagesschaukonsument oder Konsumentin mögen sich angesichts des von Ulrike Guerot beschriebenen Zustandes der gegenwärtigen Demokratie die Haare sträuben, und vielleicht wird es manchem auch wie Schuppen von den Augen fallen beim Vergleich von Robert Habecks oder Frau Strack-Zimmermanns Straf-Aktionen gegen satirische Memes in den sozialen Netzwerken gegenüber dem Verhalten eines Kanzlers (Birne) Helmut Kohl in den 1980er Jahren. 

II Vernunft

Wir alle, oder zumindest ein großer Teil unserer Gesellschaft, haben inzwischen einen Einblick bekommen, welche Auswirkungen die Corona-Zeiten und ihre Maßnahmen auf die Entwicklung von Kindern gehabt hat und was das mit "der Wissenschaft" zu tun hat. "Follow the science?" sollte wohl besser "follow the money" heißen. Die Wissenschaft, so das Fazit von Ulrike Guerot, " war zu diesen Zeiten weder "frei noch unabhängig sondern hochgradig manipuliert und manipulativ."  
Guerot, geboren Ende der 1960er Jahre, ist eine hellwache Zeitgenossin, aufgewachsen in einer Zeit, als der Wissenschaftsbetrieb noch nicht vom "vernunftbegabten Denken" entkernt war, diagnostiziert, das "dieser Prozess [der Entkernung, d. red.] nicht nur die flächendeckende Wirkung einer generellen Verdummung, sondern vor allem seine totalitäre Fratze [zeigt]." Der gesamte Wissenschaftsbetrieb, so ihr Fazit, "ist in den Corona-Jahren als Legitimationswissenschaft wahrgenommen worden, in der kritische Stimmen unterdrückt wurden." 

III Adieu Demokratie

Mit "Adieu Demokratie" ist dieses Kapitel überschrieben und hier lesen wir so einiges über den Verlust des Vertrauens. "Das Vertrauen in den Rechtsstaat, die demokratischen Institutionen oder die Meinungsfreiheit sind im Sinkflug und auf historischen Tiefstwerten". Die Gesellschaft befinde sich – wie es der italienische Philosoph Giorgio Agamben in seinem Buch "Stasis" beschreibt, in einer "Stockung", in der es um einen Moment in der Geschichte geht, "in dem eine Gesellschaft von technologischem Fortschritt überrannt wird, der zu schnell geht bzw. das gesellschaftliche Gefüge zu sehr aus den Angeln hebt". Statt aber diesen Prozess angemessen zu betrachten und zu beleuchten, "lautet die politische Reduktionsformel: Alle gegen rechts". Guerot vergleicht das mit dem "Ohren-Zuhalten angesichts eines plärrenden Kindes, das nicht angemessen äußern kann, anstatt zu ergründen, was das Kind bedrückt." 

IV Europa

Im vorletzten Teil ihres Buches nimmt die Autorin "Abschied von Europa, wie wir es kennen" und um die Frage, was aus Europa werden soll. Zeitenwenden, so konstatiert sie, seien "Momente, in denen sich Grenzen verschieben und Atlanten neu gedruckt werden." Ein Satz, der mich als Leser an ein fast vergessenes Lied von Reinhard Mey erinnert, in dem er den Besuch eines Globus-Verkäufers an seiner Haustür beschreibt: 
"… und was brauch' ich ihre Grenzen und was brauch' ich Kolonien, wenn die Mächtigen der Welt die Grenzen wöchentlich neu ziehn…" Mey rät diesem Vertreter, sich einen Vermerk im Kalender zu machen: "Schreiben sie in Ihr Notizbuch für das Jahr 2003: Nicht vergessen zu besuchen wegen Globus zu Herrn Mey" [Link Youtube] War nicht 2003 das Jahr des Irak-Krieges, als die USA die Lüge von den Massenvernichtungswaffen des Irak produzierten? Mey hätte damals durchaus von 2025 singen können. Es hätte wohl auch gepasst. [hier Link einfügen] https://www.youtube.com/watch?v=VtpZVPjIiEQ
In diesem Teil – mit ca. 80 Seiten der umfangreichste Teil des Buches – wird das Verhältnis von Europa, wie wir es – noch – kennen, zu den USA näher beleuchtet. Als was werden sich Trumps scheinbar erratische Ideen herausstellen, wenn man die zugrundeliegenden Gedanken zu Ende denkt? Kanada als 51. Staat der USA und Europa die Nr. 52? Ulrike Guerot widmet sich hier unter anderem auch den transatlantischen Beziehungen Europas seit 1945 und beschreibt hier eine Entwicklung, die damit enden könnte, "Europa aufbauen, um am Ende mit ihm in den Krieg gegen Russland zu ziehen". 

Zeitenwende, so Guerot, sei nichts anderes, als das dieser "Erzählfaden" gerade gerissen sei. "Donald Trump hat ihn durchgebissen" und die EU könne nichts anderes, als "kopflos weiterzumachen wie bisher und so zu tun, als sei der Faden noch nicht gerissen". 

anmerkung des Verfassers
während wir mit dem Lesen des Abgesanges auf Europa beschäftigt sind, gibt aktuell es im Hinblick auf das Thema Diplomatie, Begegnungen und vielleicht sogar Verhandlungen doch Neues zu sehen. Die Reaktionen der meisten Leit-Medien auf das kurz hinter uns liegende Treffen zwischen Trump und Putin in Alaska erinnern zwar an einen Hühnerhaufen, dessen Hahn bemerkt, das über ihnen ein hungriger Habicht kreist. Aber wäre es eventuell doch möglich, dass als Ergebnis der in Alaska geführten Gespräche am Ende einer Entwicklung, wie wir sie gerade beobachten können, doch noch so etwas wie Vernunft waltet und sich die offensichtliche Kriegslüsternheit der europäischen Staatenlenker zu einer vernunftgesteuerten Diplomatie verwandeln könnte?

V – Kleine Hausordnung

Ihre Gedanken fasst Ulrike Guerot am Ende noch einmal zusammen: "Wie aber kommen wir von der Diskussion über die Zeitenwende zum Zeiten Wenden?" Ihr Fazit finden wir im letzten Teil, der da lautet: "Eine kleine Hausordnung für die Republik."

Das Buch Zeitenwenden beschreibt die Verfasstheit unserer derzeitigen Demokratie und bietet Leserinnen und Lesern an, die Gedanken einer Kennerin der "Innereien" Europas mit zu denken und nachzuvollziehen. Die Hinweise am Ende zur "Literatur zum Weiterlesen" können dabei hilfreich sein, die Anmerkungen sind umfangreich. Das Lektorat hätte vielleicht an mancher Stelle den ein oder anderen Flüchtigkeits-Fehler vermeiden können, aber insgesamt fordert dieses Buch auf zum Mit- und Weiterdenken und kann sicherlich dazu beitragen, Europa besser zu verstehen.


Ulrike Guérot
ZeitenWenden
Skizzen zur geistigen Situation der Gegenwart

Westend-Verlag – Sachbuch
Buch. Hardcover
ISBN 978-3-86489-485-5

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