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Rudolf Steiner und Leo Polak

…oder: Andersdenkende zu Wort kommen lassen. Eine aktuelle Forderung! 

Bereitschaft zum Dialog: Wie Rudolf Steiner vor 100 Jahren mit einem niederländischen Philosophen öffentlich diskutierte. Zum 80. Todestag von Leo Polak (1880-1941)

von Wolfgang G. Vögele – 
"Steiner gilt im wissenschaftlichen Kontext bisher als Esoteriker und Mystiker und wird allein aus diesem Grund nicht ernst genommen." So Jost Schieren in einem Interview mit Thomas Stöckli. [1] 
Schon vor hundert Jahren wies die akademische Welt den Wissenschaftsanspruch der Anthroposophie zurück. Die meisten Kritiker Steiners ignorierten seine philosophischen Schriften und sahen in ihm nur den "selbsternannten Hellseher".

Nur wenige Zeitgenossen nahmen Steiner als Denker ernst, wie zum Beispiel der niederländische Philosoph und Strafrechtstheoretiker Leonard Polak, der wegen seiner jüdischen Herkunft als eines der frühesten Opfer des Nazi-Terrors im KZ Sachsenhausen ums Leben kam.

Es war am 1. März 1921, als Steiner, damals auf dem Höhepunkt seiner Berühmtheit stehend, im Rahmen einer Vortragsreise durch Holland auch nach Amsterdam kam, wo er in der Aula der Universität über "Philosophie und Anthroposophie" sprach. Eingeladen hatte die "Vereeniging vor Wijsbegeerte" (Verein für Wissbegierige) unter ihrem Vorsitzenden Dr. Leo Polak, der damals als Privatdozent für kritische Erkenntnistheorie in Amsterdam wirkte. Polak galt als Neukantianer und lehnte eine Erweiterung der Erkenntnisgrenzen, wie sie Steiner vertrat, entschieden ab.

Der Vortrag Rudolf Steiners und die anschließende Diskussion sind uns erhalten geblieben. Sie wurden 2020 in dem Band 80c der Steiner-Gesamtausgabe veröffentlicht. Die äußerst spannende Diskussion können wir hier nur in Umrissen schildern. 

In seinen Begrüßungsworten rechtfertigte Polak die Einladung an Steiner damit, dass sie keine Anerkennung des wissenschaftlichen und philosophischen Werkes Steiners bedeute. Die Anfrage sei von anthroposophischer Seite ausgegangen. Im Sinne des juristischen Grundsatzes "audiatur er altera pars" (auch die Gegenseite soll gehört werden) müsse Wissenschaft immer auch offen sein für unterschiedliche Denkrichtungen. Er sei davon überzeugt, dass auch Steiner so denke. Rudolf Steiner habe sich zu einer Diskussion nach dem Vortrag bereiterklärt.

Steiner behandelte zunächst drei Problemstellungen in ihrer Beziehung zur Anthroposophie: das erkenntnistheoretische, das ontologische und das ethische Problem. Dann schilderte er ausführlich den anthroposophischen Forschungsweg, der auf der Weiterentwicklung gewöhnlicher Seelenkräfte durch systematisch geordnete Meditation und Konzentration beruhe. 

Diskussion

Da sich für die anschließende Diskussion niemand sonst zu Wort meldete, war es Polaks Aufgabe, Steiner zu erwidern. Immerhin hatte er Steiners wichtigste Schriften gelesen. Am meisten habe ihn gefreut, dass Steiner versucht habe, eine erkenntnistheoretische Begründung der Anthroposophie zu geben. Dennoch, so Polak, bestehe ein prinzipieller Gegensatz zwischen Philosophie und Anthroposophie. Dieser bestehe darin, dass Steiner die Grenzen der Erkenntnis leugne.

Steiner erläuterte daraufhin, warum er ein Anti-Kantianer werden musste, nachdem er sich jahrelang mit diesem auseinandergesetzt habe. Und er verstehe auch den Enthusiasmus für Kants Vernunftkritik. "Auch alle Einwände, die eben gemacht worden sind, ich würdige sie und danke Ihrem Vorsitzenden dafür." Polak seinerseits erklärte sich bereit, einen Irrtum anzuerkennen, der sich auf einen von ihm falsch verstanden Begriff Steiners bezogen habe.

Leo Polaks Schlussworte und Dank

Zur Geistesforschung Steiners könne er sich nicht äußern, meinte Leonard Polak in seinem seinem Schlusswort, auf diesem Gebiet ein Laie sei. ("Man soll nicht sprechen von dem, was man nicht versteht.") Aber er sei sich mit Steiner darin einig, dass der Ausgangspunkt aller Wissenschaft das Ich-Erlebnis sei. Somit sei er überzeugt, "dass man getrennt marschieren, doch auch vereint schlagen kann, die Mächte des Unwissens, des Aberglaubens und der schwärmerischen Mystik, die ja auch in Dr. Steiner, wie ich mit Vergnügen jetzt gehört habe, einen Gegner hat; getrennt aufmarschieren, aber vereint überwinden diese schwarzen Mächte von Unwissenheit und Aberglaube, um zu erreichen etwas Licht, etwas Verständnis, etwas Einsicht, etwas Begreifen. In dieser frohen Hoffnung wollen wir uns einigen und zuletzt Dr. Steiner jedenfalls aus vollem Herzen danken für das, was er mit seiner ganzen Überzeugung nach einem langen Leben von so vielen Jahren gegeben hat als das Resultat seines Forschens. Dass es mit unseren Resultaten […] nicht übereinstimmt, das, was wir prinzipiell einzuwenden haben, das habe ich für meine Pflicht erachtet, nicht für mich zu behalten […]"

Stimmungsbild einer Augenzeugin

Wie die Eurythmistin Annemarie Dubach-Donath (1895-1972) diesen denkwürdigen Abend erlebte, schilderte sie in einem Brief: 

"Der Vorsitzende, ein Doktor der Philosophie, Polak, hatte gleich in den Anfangsworten erklärt, dass er sich gar nicht einverstanden mit Dr. Steiners Philosophie fühlte und dieser Abend nur stattfinde, weil eben die ‚wahre Wissenschaft‘ alles zur Sprache kommen lässt …Er war, wie es schien, ein begeisterter Kantianer und meinte unter anderem, Dr. Steiners Argument gegen Kant (nämlich, dass Auge, Ohr und so weiter auch nur Phänomene sind) sei in dem Moment hinfällig, wo man nicht von Auge, Ohr, sondern von einem Gesichtssinn, Gehörsinn und so weiter spricht. Er sagte, er möchte Herrn Dr. Steiner doch raten, sich dieses Argument noch einmal gründlich zu überlegen. Herr Doktor erwiderte darauf, dass ein Gehörsinn et cetera für ihn völlige Mystik bedeute (er meinte natürlich, in diesem Sinne, vom Kantianismus) und dass es ihn im Übrigen merkwürdig berühre, wenn man ihm in seinem sechzigsten Lebensjahr den Rat gäbe, sich den Kantianismus noch mal zu überlegen, nachdem er sein ganzes Leben dieser Auseinandersetzung gewidmet habe, und er erzählte, wie er als fünfzehnjähriger Schüler sich den Kant ins Geschichtsbuch geheftet hat. Das Publikum lachte und klatschte Beifall, und der Dr. Polak musste sich wohl oder übel entschuldigen. Nachher blieben sie noch lange sitzen und diskutierten. […] Auf den Rängen und dem Balkon sitzen die Professoren mit ihren scharf ausgeprägten, überintelligenten Rabbiner- und Gelehrtenphysiognomien – sie kamen mir vor wie eine Versammlung uralter weiser Vögel –, die kritisch und vorsichtig missbilligend die Köpfe schüttelten und sich untereinander leise Winke der Verständigung gaben. Unter ihnen wirkte Dr. Steiner jugendlich, elastisch, frisch und liebenswürdig in jeder Geste und Bewegung,wie er zum Beispiel den Kopf in die Hand stützte, während er zuhörte, und mit scheinbarer Neugier die ehrwürdigen Reihen musterte!" [2]

Leonard Polak als Humanist und Freidenker 

Als Jugendlicher wandte sich Polak vom jüdischen Glauben ab und entwickelte Sympathien für die Freidenker-Bewegung, in der er sich zeitlebens engagierte. Er kämpfte für Gedankenfreiheit und gegen jeden ideologischen und religiösen Dogmatismus. 

In der Frage der Willensfreiheit lehnte er sich an Schopenhauer an. Gegen Schicksalsschläge und das Böse zu kämpfen sei der moralische Auftrag jedes aufrichtigen Menschen, fand Polak. Der Mensch müsse sich und andere erheben über die scheinbar unvermeidliche Ungerechtigkeit in der menschlichen Existenz. Man solle einfach sein Bestes tun.
Das höchste ethische Prinzip war für ihn die Gegenseitigkeit. Er berief sich auf Spinoza, Kant und den französischen Philosophen Guyau. In seiner juristischen Dissertation befasste er sich mit dem Problem der Vergeltung im Strafrecht. Einen Maßstab für die Bestrafung eines Kriminellen sah er in dessen Schuldbewußtseins und Reue. Ausgehend vom klassischen Bildungsideal setzte er sich für eine umfassende Volksbildung ein. Und er kämpfte gegen Krieg und Faschismus.

Kurz nach dem Einmarsch deutscher Truppen in die Niederlande bekundete Polak seinen Willen zum Widerstand. In seinem Tagebuch notierte er: "Lieber ein toter Löwe als ein lebender Hund". 

Im November 1940 erhielt er Berufsverbot, was er aber ignorierte. Seine Vorlesungen setzte er zu Hause fort. Am 15.2.1941 wurde er verhaftet und im Mai in das Konzentrationslager Sachsenhausen bei Berlin abtransportiert, wo er etwa ein halbes Jahr verbrachte. Im Lagerspital musste er sich einer Darmoperation unterziehen. Einen Tag später erlitt er einen Darmdurchbruch durch physische Erschöpfung beim Tragen von Steinen. Er starb am 9. Dezember 1941. Von Polaks Familie überlebten seine Frau und zwei Töchter den Krieg: Seine Frau konnte untertauchen und wurde nach dem Krieg als Mäzenin bekannt. Eine andere Tochter wurde in Auschwitz ermordet. [3]

Wir können diese Vorgänge, wie sie damals vor hundert Jahren in Amsterdam stattgefunden haben, als ein gutes Beispiel für einen Humanismus sehen, der auch Andersdenkende zu Wort kommen lässt. Eine Haltung, die heute wieder an Aktualität gewinnt, nachdem in Deutschland kritische Journalisten und Wissenschaftler mit vom Mainstream abweichenden Meinungen mehr und mehr und ausgegrenzt werden. 

Foto: Leonard Polak – gemeinfrei 

[1] Jost Schieren in einem Interview mit Thomas Stöckli, in: Das Goetheanum, 28. Nov. 2019][2] abgedruckt in GA 80 c, S.441 f.
[3] Angaben nach: https://humanistischecanon.nl (Niederländische Website über "Denker und Täter aus der Geschichte des Humanismus")

3 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort

  • Hans-Jürgen Bracker
    11. Juni 2021 16:08

    Vielen Dank für deine schöne Darstellung dieser interessanten Geschichte!

    Antworten
  • pim blomaard
    14. Juni 2021 10:37

    Vielen Dank. Ich hatte schon über diese Begegnung recherchiert und rezensiert, aber wie weit bist du gekommen! Wunderbar! Es gibt noch ein Augenzeugenbericht von Leen Mees (veröffentlicht auf holländisch) mit vielen historischen Erinnerungsfehlern, aber immerhin, er war auch dabei. Gruss.

    Antworten
  • Wijsbegeerte Übersetzung ins Deutsche: Philosophie
    Da musste ich doch schmunzeln!
    Übrigens habe ich den Text über Steiner als "Impfgegner" mehrfach geteilt.

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