Vor 100 Jahren. „Er spürt und wittert nach allen Richtungen…“

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Die Anthroposophie wird durch sich selbst zugrundegehen. 
Was bleiben wird, ist die Verwunderung darüber, 
woran Menschen zu glauben imstande sind. 
—- der anthroposophie-kritiker oliver rautenberg 2023 /twitter

Wie ein Endzeitprophet mithalf, Rudolf Steiner zu diskredititeren.

von Wolfgang G. Vögele
Steiner Bashing ist keineswegs neu. Schon vor 100 Jahren bildete es die Begleitmusik zur anwachsenden anthroposophischen Bewegung. Damalige Gegner beriefen sich nicht nur auf die Wissenschaft, um Rudolf Steiner zu diskreditieren, sondern auch auf die Bibel. Zu den letzteren gehörte der ehemalige Rechtsanwalt Peter Paul Westphal, der 1923 eine Schrift mit dem Titel "Der Antichrist" publizierte. 1 

Von dem heute vergessenen Autor stammten Anfang der 1920er Jahre mehrere Schriften, in denen er das baldige Ende der Welt voraussagte. 2 Er stützte sich dabei auf biblische Angaben: den Propheten Daniel und die Johannes-Apokalypse. Nach Westphals Berechnungen würden sich diese Prophezeiungen in den Jahren 1927/28 erfüllen. Dann werde auch der Antichrist auf Erden erscheinen, dessen finsterer Wegbereiter bereits heute viele Menschen in seine Netze ziehe. Als diesen Wegbereiter beschreibt er – Rudolf Steiner, ohne ihn namentlich zu nennen. Die teilweise exakt angegebenen Daten aus Steiners Leben und die in verzerrter Form beschriebenen Aktivitäten seiner Anhänger lassen leicht erkennen, wer gemeint ist.

Rudolf Steiner, der diese Schrift vermutlich von einem Freund erhalten hatte, muss die deren Inhalt so ernst genommen haben, dass er im Anschluss an einen Vortrag längere Passagen daraus vorlas. 3 

Das Endzeit-Thema war damals hochaktuell. Steiner wies einleitend auf Zeitungsinserate der "Ernsten Bibelforscher" hin (die späteren "Zeugen Jehovas"), die zu Versammlungen im Raum Basel einluden. Hier ging es ebenfalls um die bevorstehende Endzeit und die Entscheidungsschlacht von Armagedon. 

Hermann Hesse weist auf eine gewisse Endzeitstimmung in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg hin: "Unmittelbar nach dem Ende des großen Krieges war unser Land voll von Heilanden, Propheten und Jüngerschaften, von Ahnungen des Weltendes oder Hoffnungen auf den Anbruch eines Dritten Reiches." [Hermann Hesse, zit. nach Ines Gröpper: Individuation und absolute Ordnung im Werk von Hermann Hesse. Marburg, 2001, S. 71] 

Der 1918 erschienene erste Band des Bestsellers "Der Untergang des Abendlandes" von Oswald Spengler traf das Lebensgefühl vieler Deutscher. Auch Westphal war einer der Endzeitpropheten.

Rudolf Steiner zitiert aus Westphals Hauptkapitel "Auf den Spuren des Antichrist". 1897-1900 habe ein Mann, der später ein moderner "Doktor Faust" geworden wäre, das Magazin für Literatur redigiert, in dem auch der Roman "Aus der Decadence" erschien. Auch das trifft zu. Damit will Westphal zeigen, so Steiner, dass er schon damals die "Zeitenverirrung" für sich genutzt habe. Um 1900 sei der Mann ungefähr 40 Jahre alt gewesen, ohne es "trotz großen Wissens" zu einer bürgerlichen Stellung gebracht zu haben. Zudem sei er "ein halber Ausländer" gewesen. Und "ehrgeizig im größten Stil", machtsüchtig, etwas eitel. "Er spürt und wittert nach allen Richtungen, wo der Erfolg zu suchen sei"; sein Äußeres habe Napoleon geglichen. Er gleiche dem Dieb, "der auf dem Hinterwege (Okkultismus) sich in den Schafstall einschleichen will." Er studiere Goethes Faust und breite systematisch die magischen Dämonenkräfte über die ganze Kulturwelt aus. Zu Beginn seiner Hauptwirksamkeit sei er (wie im Buch Daniel beschrieben) etwa 62 Jahre alt. Wie König Darius will er einen dreiteiligen Staat.

Was Westphal über die Aktivitäten der Anthroposophen mitteilt, ist eine Mischung aus Science Fiction und Horror. 

"Unter seinen Anhängern stehen die Damen voran, jene ungestillten, die an ihrer Leerheit leiden und ungestüm nach Füllung mit irgend etwas Positivem oder Männlichem verlangen.[…] Besondere Bemühungen gelten der Jugend; der Meister läßt sie Tanzrhythmen üben und überwacht sie lauernd, wer wohl durch die raschen Bewegungen zur Ekstase zu bringen sei. Die wählt er dann aus als Werkzeuge für seine magischen Zwecke; die übrigen mögen nur weiter tanzen und naiv glauben, daß sie damit Kulturleistungen vollbringen" [….]. Eine Anspielung auf die Eurythmie. Auch versuchten Steiners Anhänger, mittels hypnotischer Fernbeeinflussung kirchliche Würdenträger und wichtige Politiker zu beeinflussen.

Westphal schildert ausführlich die magische Tätigkeit von Steiners Anhängern. "Es tut nicht not, die umfangreiche Taktik bis in Einzelheiten zu verfolgen. Dem schwarzen Meister ist es um die Wenigen, Seltenen zu tun, die im engeren und engsten Kreise an seinen magischen Arbeiten mittätig sein können; jede dieser Personen übt eine besondere Verrichtung aus." 

Steiner stelle Medien und Exorzisten in seinen Dienst. "In den Dunst des Weihrauchs werden magische Befehle geflüstert". Ein Händedruck des Meisters genüge, um aus einem ehemaligen Gegner einen Anhänger zu machen. 4 "Und der Zweck des ganzen Treibens? Dem kommenden Antichrist die Bahn zu bereiten!" 

Charakteristisch für die Steinerianer sei ihre hektische Betriebsamkeit: "Immer häufiger werden die nächtlichen Arbeitssitzungen." Der Orientalist Schaeder berichtet 1921, einige Gegner Steiners könnten sich dessen enorme Arbeitskraft Steiners nur mit "schwarzer Magie" erklären. 5 Tatsächlich wurde in einer Konferenz "nichtanthroposophischer Kenner der Anthroposophie" im Oktober 1922 festgestellt, Steiner sei ein Teufelsdiener und die Anthroposophie eine "diabolische Macht". 6 

Doch Westphal kennt auch das unrühmliche Ende Steiners: "Wenn der Weissagung gemäß nach 3 1/2 Jahren, d.h. im Spätherbst 1927, die Herrschaft des Antichrist zu Ende geht und der falsche Prophet in der großen Schlacht Armagedon den Tod findet, dann wird er genau ein Alter von 66,6 Jahren erreicht haben."

Dass sich Westphal aus der damals schon reichhaltigen "Gegnerliteratur" bediente, ist unverkennbar.

Mit Recht weist Rudolf Steiner darauf hin, dass durch solche im Kolportagestil geschriebenen Broschüren die "unteren Volksschichten" bearbeitet werden sollen. Parallel dazu werde eine bildungsbürgerliche Mittelschicht mit Schriften wie Fritz Mauthners "Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande" versorgt. 7 Steiner zitiert dann aus dem damals erschienenen 4. Band dieses Werkes S. 401 ff. Darin ist von Hochstaplern die Rede, die nach dem Weltkrieg die Not des Volkes ausnützten. Dann folgt der bis heute von Kritikern gern zitierte Satz: "Aber das Fett abgeschöpft aus den Börsen wundersüchtiger Männlein und Weiblein hat doch Rudolf Steiner, der Theosoph, der sich ausweichend einen Anthroposophen nennt, der sich bei der Anpreisung seiner übermenschlichen Gaben des Fernsehens mit dreistester Scheinwissenschaftlichkeit auf den Buddha, auf Christus, auf Goethe und sonst auf alles Hohe beruft und von den Schwarmgeistern erklecklichen Zulauf erfahren hat. Eine Widerlegung dieses neuen Cagliostro wäre für eine gesunde Logik schwerer, als man denken sollte; das Hexeneinmaleins ist nicht zu widerlegen, nur auszulachen." 

Die Lachlust bediente beispielsweise der Schriftsteller Mynona in seinem Roman "Graue Magie" (Berlin 1922), in dem es etwa hieß, dass "weise Meister wie Rudolf Steiner die Gehirne schwängern".8

Steiner resümierte, es sei für alle Volksschichten genügend gesorgt, und wer die Lügen verfolgen könne, die von da ausgehen zu den veranlassenden Mächten, der dürfe schon fordern, dass die Anthroposophen wachsamer sein sollten gegenüber dem, was heute "im Gange ist". 

Ein Kenner von Steiners Werk schrieb vor 20 Jahren: "Schon zu seinen Lebzeiten projizierten seine Nicht-Freunde all das, was sie für die Schreckgespenster ihrer Zeit zu erachten glaubten, auf ihn […]: mal Kommunist, mal Freimaurer, mal Guru, mal Antichrist." Und er fügte hinzu: "Rassist, Faschist, Antisemit, das sind die Formeln, mit denen man heute jeden und alles abwürgen kann – auch Steiner und die Anthroposophen.[…] Und all jene, auf die sie tatsächlich zutreffen, machen immer so weiter wie auch schon zuvor." 9

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Illustration: Die apokalyptischen Reiter – Wiktor Wasnezow (gemeinfrei)

Anmerkungen

1 Peter Paul Westphal: Der Antichrist. Die prophetischen Geheimnisse der biblischen Endzeit, besonders für 1924-1927. Altona-Bahrenfeld, August 1923. 
2 Auf den Titelblättern einiger Schriften nennt er sich „früherer Rechtsanwalt“. „Das Zahlengeheimnis der Geschichte, 1922; „Weltgericht!“ Altona im Selbstverlag 1922, 4. Aufl. Thüringer Verlagsanstalt Dietmar & Söhne, Langensalza 1924; (Aus dem Inhalt: Dreigliederung der abwärtstreibenden Kräfte Kapitalismus, Kommunismus und Okkultismus, die Judenfrage, Zahlensymbolik usw. Licht auf die Endzeit); „Mene Tekel. Am Vorabend des Gerichtes. Biblische Weissagungen auf die Jahre 1925 bis 1931“ (Selbstverlag, Hamburg 1925, dann Verlag Adolph Düffert 1925); Verborgene Weisheit. 8 prophetische Studien 1926; „Der Antichrist“ 1927; 
„Die Offenbarung Johannis im Lichte der Endzeit“ o.D.;„Das Weltgericht über die Völker Europas und Asiens und die Schlacht von Harmagedon.“ Philadelphia Verlag Leonberg 1947.Wie groß die Verbreitung von Westphals Schriften waren, ist unklar. 
3 Am Ende des Mitgliedervortrags, Dornach, 26. Oktober 1923, GA 259, S. 186-192.
4 „Steiners Haupttrick ist sein Händedruck. […] Seine Schülerinnen lechzen nach solchen Händedrücken.» Heinrich Goesch, in GA 159, S.808. 
5 Hans Heinrich Schaeder: Wider die Weltanschauung Rudolf Steiners. Hochland 18.Jg., August 1921, S. 599-618. 
6 nach einem Bericht, GA 259, S. 795. Der damalige Privatdozent Leisegang, der an dieser Konferenz teilnahm, schrieb: „Welche satanische Freude muß dieser ‚Hellseher‘ daran haben, wenn er sieht, daß so viele Menschen auf seinen banalen Unsinn rettungslos hereinfallen.“ (Hans Leisegang: Die Grundlagen der Anthroposophie, Hamburg 1922, S. 67 f.)
7 Fritz Mauthner: Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande. Stuttgart 1922 (1. und 2. Band) und 1923 (3. und 4. Band). Steiner hatte die beiden ersten Bände im Oktober 1922 rezensiert (GA 36).
8 Wolfgang G. Vögele: "Eine nahezu qualvolle Lektüre". Rudolf Steiner und Mynona. Die Drei 1/2022, S. 135. 
9 Walter Kugler: Feindbild Steiner. Stuttgart 2001, S. 9.

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Presseagentur Alternativ

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