Starke Frauen. Ita und Marie 

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Eindrücke zu einem Buch von Gunna Wendt, das Anfang 2023 im Piper-Verlag erschienen ist

von Michael Mentzel

Eine Beschäftigung mit der Anthroposophie ist wohl kaum denkbar, ohne irgendwann Ita Wegmann und Marie Steiner zu begegnen. Diese beiden Frauen, deren Lebenspfade sich auf die vielfältigste Weise kreuzten, ergänzten und durchaus auch miteinander konkurrierten, haben die Anthroposophische Gesellschaft als auch die Bewegung auf eine besondere Weise geprägt und eine Signatur sichtbar gemacht, die bis heute die medizinischen und künstlerischen Arbeitsfelder maßgeblich beeinflusst. Die Autorin Gunnna Wendt hat nun im Piper-Verlag eine Biographie vorgelegt, die in einer sehr behutsamen und geradezu liebenswürdiger Weise die Entwicklung dieser beiden Frauen nachzeichnet, die in einer männerdominierten Gesellschaft aufwuchsen, in der es nicht selbstverständlich war, dass Bedürfnisse oder gar Visionen junger Frauen eine angemessene Berücksichtigung fanden.

Am 22. Februar 1876 kam Ita Wegman in Java zur Welt, Marie Steiner wurde am 14. März 1867 im polnischen Wloclawek, das damals noch zu Russland gehörte, geboren. Die Voraussetzungen für eine weitgehend unbeschwerte Kindheit und Jugend waren durch die wirtschaftlichen Verhältnisse beider Familien gegeben und unterschieden sich durch eine militärisch-autoritäre Erziehung in Maries Leben von der eher freigeistigen Stimmung in der Wegman-Familie. En passant erfahren Leserin und Leser eine ganze Menge über die Lebensumstände in damaligen Zeiten, bis hin zu den politischen und kulturellen Gegebenheiten, in denen sowohl Ita Wegman als auch Marie von Sivers aufwuchsen. 

Ita

Ita Wegman besaß neben ihrem ausgeprägten Selbstbewusstsein und einem Organisationstalent mit früh sichtbaren Führungsqualitäten einen hohen Grad an Einfühlungsvermögen, das anderen Menschen zuteil wurde. Bei Begegnungen machte sie sich schon als Kind ein eigenes Bild von ihrem Gegenüber und auch wohl ihre eigenen Gedanken, was sich dann später in ihrem Beruf als Ärztin als eine ganz besondere Qualität herausstellen sollte. Gunna Wendt erzählt, wie es die Künstlerin und Maltherapeutin Liane Collot d'Herbois beschreibt: "(Sie) machte sich innerlich ganz leer (…) sie wollte stets mit eigenen Augen sehen." 

Mit 15 Jahren schickten die Eltern Ita und ihre ein Jahr jüngere Schwester Charlien nach Europa. Bis dahin waren die Kinder zu Hause unterrichtet worden. In Arnheim/Niederlande besuchten sie die "Middelbare School for Meisjes". Neue Herausforderungen und kulturelle Anregungen wechselten sich hier ab mit Entdeckungen, wie sie zum Beispiel durch den norwegischen Dichter Henrik Ibsen zu Tage traten und "den aufbegehrenden Frauen des Fin de Siecle aus der Seele (sprachen)". Die Mädchen entdeckten das Reisen, nach Paris, London, Berlin … 

1894 traten sie – ohne Schulabschluss – die Rückreise nach Java an. Ita ist inzwischen 19 Jahre alt. Sie verliebt sich auf der Rückreise in einen jungen Offizier und in Batavia verlobt sie sich mit ihm, Kurz danach stirbt er an Tuberkulose. Vielleicht, um die Trauer zu überwinden, stürzen sich Ita und Charlien in das gesellschaftliche Leben, was aber eigentlich Itas Sache nicht ist. So konstatiert die Schwester: "Ita war mehr für ein ernstes Leben, dieses leere Dasein sagte ihr nicht zu."

Als Charlien heiratet, findet Ita Ruhe in der Abgeschiedenheit eines Hause in den Bergen, und gemeinsam mit einer holländischen Freundin entdeckt sie die Theosophie. Dieser Teil des Buches ist mit "Starke Frauen" übertitelt und es ist ein kleiner Exkurs über die Anfänge der Theosophie und deren maßgebliche Gründerin Helena Petrova Blavatsky. 

Itas eigener Weg

Für Ita Wegman war die Theosophie nicht nur eine Theorie, für sie hatte dies auch Konsequenzen in ihrem täglichen Leben. Es bedeutete insbesondere Achtsamkeit, Kontemplation und auch vegetarische Ernährung. 
Zum Leidwesen ihres Vaters ließ sie allerdings von diesen spirituellen Interessen und Neigungen nicht ab. Er hätte es lieber gesehen, dass seine Tochter weiter am gesellschaftlichen Leben teilnahm. Seine Sorge: Wie sollte sie denn sonst einen Ehemann kennen lernen? Aber gegen Itas Eigensinn, der sich schon in den frühen Kindheitstagen gezeigt hatte, ließ sich wohl nichts machen und so setzte sie sich gegenüber der Familie durch. Als der Vater schwer erkrankt, kehrt die Familie zurück nach Holland. Ita erlebt in Amsterdam das Aufblühen der Theosophie und sie begegnet hier wohl auch der englische Theosophin, Sozialistin und Frauenrechtlerin Annie Besant. 

Die Verbindung von Spiritualität und sozialem Engagement in einer Zeit, in der in den holländischen Fabriken katastrophale Arbeitsbedingungen herrschten, Krankheiten grassierten und die Not der Familien und der Frauen besonders groß war, wird Ita nachhaltig beeindruckt haben und so muss es "für eine wissbegierige, therapeutisch interessierte junge Frau wie Ita Wegmann unverständlich gewesen sein, dass es für sie und ihre Geschlechtsgenossinnen damals noch nicht möglich war, Medizin zu studieren.", schreibt Gunna Wendt. 

Als Frau der Tat entscheidet sich Ita, an einem Berliner Therapeutikum Schwedische Heilgymnastik zu studieren. Berlin bot gerade in dieser Zeit für junge Menschen neue und interessante Ausbildungsmöglichkeiten auch im medizinischen Bereich, es entwickelten sich alternative Lebensformen, Naturheilkunde und Reformpädagogik waren en vogue, in Berlin gab es 50 vegetarische Restaurants. So bleibt es nicht aus, dass Ita Wegman auch auf Rudolf Steiner trifft. Sie besucht ihn und bietet ihm ihre Mitarbeit an. Die Theosophische Bewegung zählt zu dieser Zeit gerade einmal 100 Mitglieder. 
Nach einem Vortrag über Goethes Märchen im Berliner Architektenhaus lädt Rudolf Steiner sie zu einem Besuch in die Berliner Motzstraße ein. An diesem Tag, so Gunna Wendt, habe Ita in der Motzstraße "eine esoterische Stunde erlebt, die lebensentscheidend für sie war": "Von dem Moment ab wusste ich, Rudolf Steiner war mein Lehrer, ist mein Lehrer und und wird in der Zukunft mein Lehrer sein". 

Gunna Wendt beschreibt diese Begegnung Ita Wegmans mit Rudolf Steiner in der Motzstraße bereits im Prolog des Buches. Es ist eine eindrückliche Begegnung. Ebenfalls anwesend bei diesem Besuch ist Marie von Sivers, eine enge Mitarbeiterin von Rudolf Steiner. Sowohl Steiner als auch Marie von Sivers raten ihr, in der Schweiz Medizin zu studieren. Ihren fehlenden Gymnasial-Abschluss könne sie nachholen. Dieses würde ihr sicher ermöglicht. 

Marie 

Ab ihrem 10. Lebensjahr lebt die Familie von Sivers in Petersburg. Marie hat 3 Brüder und eine Schwester, der Vater ist Kaiserlich Russischer Generalleutnant. Militärisch geprägt – schon der Ahnherr der Familie, Admiral Peter von Sivers (1674-1740) stand in Diensten von Zar Peter des Großen – wächst Marie in einer eher freudlosen Umgebung auf, riesige Zimmer, schwere Türen, keine Bilder. die "karge Umgebung" wirkt sich auch auf das familiäre Leben aus. Gunna Wendt: "Im Vordergrund stand das Bestreben, die herrschenden Konventionen und die damit verbundene Ordnung einzuhalten und einen guten Eindruck zu hinterlassen." 
Marie allerdings war in der Familie die Einzige, die schon früh dagegen opponierte, keinem Streit aus dem Wege ging, sondern Auseinandersetzungen sogar noch provozierte. Sie war hochsensibel und "immer voll auf Empfang", "Jeder Ton offenbarte ihr das Seelische, das in ihm lebte", so beschreibt es Marie Savitch, die ab 1920 zum Kreis von Marie und Rudolf Steiner gehört, in ihren Aufzeichnungen. [LINK] 

Marie besucht eine deutsche Privatschule, ist eine sehr gute Schülerin und erfährt eine breite humanistische Bildung. Sie war eine der Besten, schwärmt ihr Schulleiter und nennt sie einen "jungen Schiller". Gunna Wendt: "Vielleicht spielte er damit auf ihren ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, ihr Aufbegehren gegen Unrecht und ihre unbedingte Wahrheitsliebe an." Ihr Wunsch, Griechisch zu lernen, um Homer im Original lesen zu können, trifft bei den Eltern allerdings auf taube Ohren. 

1884 stirbt der Vater, zwei Jahre später wird Marie konfirmiert und geht mit der Mutter und der Schwester auf Reisen. Die Stationen sind Wien, Berlin, die Schweiz und Italien. Marie spürt, wie eingeengt ihr Leben bisher war und glaubt, dass sie ihren eigenen Weg im Westen viel eher finden kann. Noch aber ist es nicht soweit. Um sich den Wunsch, zu studieren, erfüllen zu können, wählt sie, wie auch andere selbstbewusste Frauen damals, den Weg über eine Lehrerinnenausbildung. Parallel dazu lernt sie Französisch, Englisch und Italienisch und beherrscht so mit Deutsch und Russisch fünf Sprachen, sowohl mündlich wie auch schriftlich. Der Zugang zum Studium aber wird ihr weiterhin verwehrt und so bleibt ihr nur der Ausweg des Selbststudiums, wovon eigene Aufzeichnungen Zeugnis ablegen.

Auf dem Land, in Nowgorod, bewirtschaftet Maries Bruder ein Landgut, dort verbringt sie drei Jahre. Sie beobachtet das Verhalten der Landbewohner, die sich offensichtlich von Städtern nicht belehren lassen wollen und z. B. im Falle von Krankheiten auf ihren eigenen Methoden bestehen. Für sie nicht der Ort, an dem sie sich wohlfühlt. Ihre Erkenntnis: "Man lernte einsehen, dass es mit dem einzelnen guten Willen zur Volksbeglückung nicht getan war und dass es einem am allerwenigsten vom Volke selbst geglaubt wurde". 

Maries eigener Weg

Sie kehrt zurück nach Petersburg, ist 27 Jahre alt und darf nun endlich nach Paris. Dort, in der "Stadt des Lichts" will sie vergleichende Sprachwissenschaft studieren, bricht ihr Studium aber bald darauf wieder ab. Ihre Hochsensiblität verträgt sich nicht mit den "Augen des Professors". So heißt es in ihren Aufzeichnungen: "Schlechte Luft und abweisende Augen ließen mich das Heil anderswo suchen: In der lebendigen Sprache und in der Kunst." Damit war dann wohl die Richtung ihrer Entwicklung vorgezeichnet. Sie beginnt eine Schauspielausbildung und als Gast darf sie das Pariser Konservatorium besuchen.

Nach zwei Jahren allerdings wird sie von der Familie nach Petersburg zurückgerufen. Sie trifft dort die Schauspielerin Maria Strauch-Spettini, die sie unter Ihre Fittiche nimmt, sie fördert und ihre Freundin wird. Wird sie eine Schauspielkarriere machen? Fast scheint es so. Am Schillertheater in Berlin könnte sie die Johanna von Orleans spielen, aber sie lehnt ab. Für Marie ist das Schauspiel in erster Linie Vermittlung von Kunst und damit von Inhalt. Effekthascherei, die Vermarktung und die Wirkung nach außen bedeutet ihr garnichts: "Das Hineingestellt werden in das Intellektuelle, statt in das von innen heraus künstlerisch Erfühlte" war für sie nur etwas Äußerliches, damit konnte und wollte sie nichts anfangen. Sie entdeckt den französischen Schriftsteller und Theosophen Édouard Schuré und pflegt mit ihm eine rege Brieffreundschaft. Diese Begegnung hat Folgen, sie schließt sich der Theosophischen Bewegung an und wird in der Folge gemeinsam mit Rudolf Steiner, den sie dann 1914 auch heiratet, die Anthroposophische Bewegung und die Gesellschaft – nicht immer ohne Reibungen und Auseinandersetzungen – zu einer Blüte führen, die bis auf den heutigen Tag anhält. 

Ita Wegman Marie v. Sivers. Zwei Frauen, wie sie einerseits unterschiedlicher nicht sein können, andererseits aber mehr gemeinsam hatten, als es auf den oberflächlichen Blick erkennbar ist. So verbindet diese beiden die unbedingte Nähe zu Rudolf Steiner, den sie wohl auf je unterschiedliche Weise lieben und verehren. 

Gunna Wendt beschreibt die Lebenswege ihrer Protagonistinnen im weiteren Verlauf ihres sehr lesenswerten Buches ohne die in anthroposophischen Zusammenhängen manchmal auch üblichen "Lobpreisungen" oder spirituelle Überhöhungen. Zwei Frauen, die unbeirrt ihren eigenen Weg gehen und auf ihre eigene Art die Ziele verfolgen, die nicht von anderen vorgegeben sind, sondern die sie selbst definieren. Und sie lassen sich nicht davon abbringen, auch wenn die Umstände es auch manchmal schwer machen. 

Die Leserin, der Leser spürt, – so mein Eindruck beim Lesen dieses Buches – die Anteilnahme, die diesen beiden Frauen, die einen so entscheidenden Beitrag zur Entwicklung der Anthroposophischen Bewegung geleistet haben, durch die Biographin Gunna Wendt entgegenkommt, was in den heutigen Zeiten, in der die Anthroposophie und deren Arbeitsfelder in der Öffentlichkeit sichtbar wird wie kaum eine andere spirituelle Bewegung, durchaus nicht selbstverständlich ist.

Gunna Wendt
Ita und Marie
Ita Wegman und Marie Steiner
Schicksalsgefährtinnen und Konkurrentinnen um Rudolf Steiner
Piper Verlag GmbH, 04/2023 
ISBN-13: 9783492315364
256 Seiten


 

foto: Ita Wegmann │Marie Steiner gemeinfrei │ Buchumschlag / Verlag

1 Kommentar. Hinterlasse eine Antwort

  • Gabriele Suwelack
    2. August 2023 22:59

    Also, hätte ich das Buch nicht schon (wenn auch noch ungelesen) neben mir liegen, hätte ich mich spätestens nach dieser Zusammenfassung von dir dazu entschlossen, es zu kaufen! Auf jeden Fall bin ich jetzt noch neugieriger geworden und freue mich auf das Lesen.
    Spontan kam mir sogar der Gedanke: Warum schreibt er selber nicht mal eine
    Biographie – so lebendig wie er zu schildern und charakterisieren vermag!

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