Rudolf Steiner in Nachrufen

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Der folgende Text ist ein Vorabdruck aus dem o. g. Sammelband und erschien am 11. April 1925 in der "Königsberger Allgemeine Zeitung". Er wurde verfasst von Dr. Walther Harich, dem Vater des 1923 geborenen DDR-Schriftstellers Wolfgang Harich.

Einer der merkwürdigsten Menschen ist in Dornach, in der Schweiz, der Stätte seines langjährigen Wirkens, zur ewigen Ruhe eingegangen. Rudolf Steiner selbst würde gegen diesen Ausdruck protestieren. Er glaubte genau zu wissen, wie es den Abgeschiedenen im Jenseits ergeht. In dem somnambulen Zustand, in den er sich mit Hilfe von Yoga-Übungen zu versetzen verstand, taten alle Geheimnisse der Welt sich ihm auf. Die Toten sind nicht tot; in einer Art Fegefeuer, von seelischen Qualen und Spannungen gepeinigt, werden sie zu einer höheren Stufe der Vollkommenheit geläutert, wenn die Kraft in ihnen ist. Nur wenige gehen in den Kreis der ewigen Geister ein, die meisten müssen wieder zur Erde zurück, in einer neuen Inkarnation die Sünden des vorigen Erdenwandels abzubüßen, zu überwinden, höher zu steigen oder tiefer zu sinken. Rudolf Steiner kannte alle Stationen dieses geheimnisvollen Kalvarienweges durch die Ewigkeit. Er konnte den Menschen ansehen, welche Stufe sie erreicht hatten und in welchem Punkt der Kurve sie standen. Alles, was je gewesen und je sein würde, las er in den Stunden seines erhöhten Zustandes in der „Akascha-Chronik“, dem Buch der Ewigkeit, in das alles eingetragen ist. Deutlich wurden dort die Zeiten der Menschheitswanderung sichtbar. Nur über jenen Jahrhunderten, die bereits wissenschaftlich durchforscht waren, lag, die festen Umrisse verwirrend, der Schleier der Lüge. Rudolf Steiner wußte Alles. Jetzt steht er dem Ewigen Auge um Auge gegenüber. Wird er Bestätigung finden?

Niemand hat diesen seltsamen Mann ganz enträtseln können. War er ein großer Heiliger, wie seine Anhänger von ihm glauben? War er ein großer Charlatan? Ich glaube, beide Seiten waren bei ihm in eigenartiger Mischung vorhanden. Ein Magier war er jedenfalls. Ob ein schwarzer oder ein weißer? Wer will es entscheiden! Ich hielt ihn immer für einen „gesprenkelten“, einen, in dem Gut und Böse seltsam ineinander lagen. Jedenfalls wußte er Menschen zu bannen. Es war mir stets unbegreiflich, wodurch er auf Massen wie auf einzelne wirkte. Ich habe nie in seiner Nähe jenen unnennbaren Hauch verspürt, der von großen Geistern ausgeht, aber ich sah kluge und klare Menschen seinem Einfluß rettungslos unterliegen. Pfarrer Rittelmeyer ist der beste Beweis für die suggestive Kraft, die für bestimmte Menschen von diesem eigenartigen Propheten ausgehen konnte. Von allen, die sich heute für Führer halten, hat Rudolf Steiner die größte Gefolgschaft hinter sich zu zwingen verstanden. Ganze Ortschaften sind von seinem Geist durchsetzt. In jeder Stadt Deutschlands gibt es Menschen, die ihm unbedingt folgen. 

Das Lebenswerk dieses Mannes ist nicht leicht in einem kurzen Zeitungsartikel zu fassen, noch weniger zu beurteilen. In dem vor einigen Jahren niedergebrannten „Goetheanum“ in Dornach hat es sein sichtbares Symbol gefunden. Ein Riesenbau, von maßlosen Kuppeln überdacht, halb Erlösungsburg, halb türkische Moschee, mit gotischen Einschlägen. Alle großen mystischen Stile verzerrend, steigernd, ohne harmonisches Maß, voll von Geschmacklosigkeiten, die an den Geschmack der achtziger Jahre anklangen, drückte dieser Kolossalbau das innere Wesen seines Beherrschers aus. Alle Geheimlehren der Welt hat er zusammengetragen, deutsche Mystik mit indischer Religiosität vereinend. Im allgemeinen übertrug er die theosophische Weisheit in unsern Norden. „Anthroposophie“ nannte er die von ihm ins Leben gerufene Bewegung, die bald Zehntausende von Anhängern aller Schichten zählte. Eine Fülle tiefster Gedanken sind in seinem System, wenn dieser Ausdruck am Platze ist, niedergelegt. Seine Bücher sind in einem furchtbaren Deutsch geschrieben, in demselben Deutsch, in dem er auch seine Vorträge hielt. Ich habe nie verstehen können, daß nicht schon diese ungelenke Sprache alle Anhänger zurückschreckte. Aber mir wurde versichert, daß sich seine Gedanken nicht anders ausdrücken lassen. Jedenfalls ist es Tatsache, daß gerade diese Sprache zahlreiche seiner Hörer hinriß, und daß sie auch auf seine Mitarbeiter allmählich übergriff. Die von seinen zahlreichen Unternehmungen verschickten Prospekte sind, auch wenn sie von andern verfaßt sind, alle in diesem schauderhaften Deutsch geschrieben. Und doch, man las sich langsam hinein, und hinter diesen abstrakten Deduktionen begannen langsam Gestalten und Ideen zu wogen. Die meisten seiner Bücher sind nicht veröffentlicht worden, sondern in Maschinenschrift nur unter seinen Anhängern verteilt worden. Durch Zufall kam ich zur Lektüre einiger dieser Schriften. Die eine enthielt eine Christologie voll bestechender Ideen, eine andere handelte vom Johannesevangelium, und hier muß ich allerdings sagen, daß ich selten etwas Tieferes gelesen habe. Natürlich sind die Ideen, die diesen Büchern zugrunde liegen, nicht originell, sie sind aus allen möglichen Literaturen zusammengetragen, aber Rudolf Steiner hat doch das Verdienst, eine Unmenge der tiefsten und schönsten Gedanken unter einer großen Anzahl von Menschen verbreitet zu haben. 

Seine ersten Schriften beschäftigen sich mit Goethes Naturphilosophie. Wissenschaftlich ernst zu nehmen sind sie ebenso wenig wie sein Hauptwerk, eine dreibändige „Philosophie der Freiheit“. Aber gerade diese Wissenschaft, von der aus man diese Bücher alle ablehnen muß, lehnt Steiner seinerseits ab. Er ist ein rigoroser Feind des Kantischen Kritizismus, ohne doch Hamann und Herder, diese beiden geschworenen Feinde Kants, zu kennen oder zu berücksichtigen. In Goethes naturwissenschaftlichen Schriften glaubt er den Hauptstützpunkt für seine Lehre zu finden. So lange man Steiner liest, wird man davon überzeugt sein. Hinterher kommen unabweisbare Bedenken. Fast aller Gebiete menschlicher Betätigung hat sich sein Geist bemächtigt. Seine Ideen über dramatische Kunst haben Haß-Berkow und Gümbel-Seiling mit ihren Mysterienspielen in die Wirklichkeit umgesetzt. Die Erschütterungen gotischer Menschen sollten durch diese Mysterienspiele wiedergeboren werden, aber es waren schließlich doch nur die Dilettantismen fortgelaufener kleiner Volksschullehrer und entarteter junger Mädchen, die dann allerdings unter der geschickten Leitung von geborenen Regisseuren wie Gümbel-Seiling (dieser ist der bedeutendere und originellere)  und Haß-Berkow  bestimmte starke Wirkungen auslösten, so lange sie sich in ihrem Rahmen hielten. Auch eine eigene Unterrichtsanstalt hat Steiner ins Leben gerufen: die sogenannte Waldorfschule. Das Programm dieser Unterrichtsanstalt ist ungeheuer bestechend, bis auf das unsinnige Deutsch, in dem es abgefasst ist. Die Resultate hingegen sollen fürchterlich sein. Vor etwa fünf Jahren gründete Steiner die Aktiengesellschaft „Der kommende Tag“.  Schule, Bühne, ein Verlag, eine Zigarettenfabrik (die bekannte „Waldorf-Astoria“) und verschiedene andere Unternehmungen gehörten dazu. Diese Aktiengesellschaft war nach meiner Ansicht nicht ganz einwandfrei aufgezogen. Sie war denn auch ein großer Reinfall, nachdem sie kleinere, aber maßlos aufgebauschte Anfangserfolge hatte. Die wirtschaftliche Idee, die dieser Gründung zugrunde lag, war der „Dreiteilung des sozialen Organismus“, einer volkswirtschaftlichen Schrift Steiners, entnommen. Auch hier wurde, wie überall bei Steiner, eine tiefe und fruchtbare Idee, in jämmerlichem Dilettantismus vergeudet.

Diese Schrift von der „Dreigliederung des sozialen Organismus“ brachte mich in Berlin mit Rudolf Steiner zusammen. Ohne etwas von der anthroposophischen Lehre des „Propheten“ zu ahnen, war ich seinerzeit  für die Gesichtspunkte dieser Schrift in allerlei Zeitungen und Zeitschriften eingetreten. (Auch heute noch halte ich die Grundgedanken dieser Schrift für ausgezeichnet.) Steiner bat mich infolgedessen, ihn zu besuchen. Es war die vielleicht unerquicklichste Unterredung, die ich je im Leben geführt habe. Ich sah einen Menschen, der sich selbst mit einem unglaublichen Brimborium umgab, für das mir jedes Verständnis fehlte. Einen Menschen, der die tiefsten Gedanken bis zur letzten Konsequenz zu Ende gedacht hatte und der doch rettungslos von Eitelkeiten und Charlatanismen überwuchert war. Das Zerrbild eines großen Propheten, dem es nicht an Gaben oder an selbstloser heiliger Hingabe fehlte. Trotz dieses abstoßenden Eindrucks blieb ich Jahre lang mit einigen Steinerianern in Verbindung, weil die Ideenfülle dieses Mannes mich anzog. 

Ich sagte, dass es das eigentliche Verdienst Steiners war, daß er diese Ideenfülle, die sonst in den Geheimliteraturen aller Völker verborgen liegt, einer großen Anzahl von Anhängern bekannt gemacht hat. Aber im Grunde ist gerade dies kein Verdienst, sondern eine schwere Gefahr. Ein ungeheures Proletariat des Okkultismus ist auf diese Weise ins Leben gerufen worden. Menschen, die sich in der Kenntnis der tiefsten Menschheitsfragen zu Hause wähnen, die sich im Besitz aller Geheimnisse fühlen und einem hemmungslosen Pharisäertum verfallen. So sehr Einzelnes an dem Gedankenbau Steiners anziehen kann, seine Anhänger sind meistenteils indiskutabel. Monströse Erscheinungen wie das abgebrannte Goetheanum, anrüchig wie die Aktiengesellschaft „Der kommende Tag“. Umgekehrt wie das Urchristentum, mit dem sich die Anthroposophen gern in Parallele stellen, hat diese Lehre „Menschenopfer unerhört“ gefordert. Wer sich Steiner verschrieb, wurde unfehlbar aus seiner Bahn geschleudert. Die anthroposophische Bewegung hat in erschütternder Weise gezeigt, wie aus Eitelkeit und innerer Lüge, trotz aller Genialität, nur Eitelkeit und Verlogenheit gezeugt werden kann.

Wie wird Steiner vor dem höchsten Richter bestehen? Gelang es ihm vielleicht im Tode, alle irdische Eitelkeit abzustreifen und die höchste Weisheit in sich lebendig werden zu lassen, der er im Leben oft so nahe gekommen ist? Wir wissen es nicht.


Das Buch wird zum Todestag Rudolf Steiners 2025 im Info3-Verlag erscheinen.
© Foto: Themen der Zeit. Fenster des Schreinereisaals in Dornach
Anmerkung von WGV: Der Literaturhistoriker und Schriftsteller Walther Harich (1888-1931) war der Vater des marxistischen Philosophen und Ökologen Dr. Wolfgang Harich (1923-1995), der als Dissident einige Jahre Haft in der DDR verbüßte. 

Quelle: Zeitungsausschnitt ohne Seitenangabe. Rudolf Steiner Archiv

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