Erinnerungen an Rudolf Steiner

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Wolfgang G. Voegele, der Herausgeber von "Der andere Rudolf Steiner", arbeitet derzeit an einem neuen Buch mit Nachrufen von Zeitgenossen von Rudolf Steiner zu dessen Tod vor 95 Jahren, am am 30.März 1925. Zwei Protagonisten stellt er in dem folgenden Beitrag vor.

Zwei Berliner Redakteure über Rudolf Steiner 

Der Publizist und Schriftsteller Paul Fechter (1880-1958) war in Berlin Feuilletonredakteur mehrerer Zeitungen ("Vossische", D.A.Z., Berliner Tageblatt). Als einer der ersten setzte er sich mit dem literarischen Expressionismus auseinander ("Expressionismus", 1914). 1920 erschien seine Wedekind-Biographie. Im Dritten Reich war er Mitherausgeber der Kulturzeitschriften "Deutsche Zukunft" und "Deutsche Rundschau" und nach dem Zweiten Weltkrieg der "Neuen deutschen Hefte" (1954-1956). Er schrieb für das Feuilleton der Wochenzeitung „Die Zeit“ und verfasste humorvolle Berlin- und Preußenromane. In seinen Memoiren ("An der Wende der Zeit", Gütersloh: Bertelsmann 1949) schildert er seine Begegnungen mit Rudolf Steiner, in denen er auch Erinnerungen seines Freundes Dr. Paul Remer (1867-1943) verarbeitet. Remer seinerseits kannte Steiner aus dessen frühen Berliner Jahren. Er war um 1900 Redakteur der Berliner Illustrierten 'Die Woche' gewesen und hatte auch Gedichte veröffentlicht, von denen einige von bekannten Komponisten wie Richard Strauss und Arnold Schönberg vertont wurden.

Paul Fechter erinnert sich

[Paul Remer] hatte viel erlebt, war vielen Menschen begegnet, und wenn er in unbewachten Stunden einmal zu erzählen begann, erstanden Bilder, von denen man wünschte, daß er sie wenigstens in Aufzeichnungen und Erinnerungen festgehalten hätte. Wenn er etwa von Rudolf Steiner erzählte, mit dem er oft in irgendeinem Verein die Nächte hindurch zusammengesessen und gezecht hatte, bekam die Gestalt des dunklen Magiers und die Erinnerung an ihn neue, verwandelnde Züge: der junge Mensch stieg auf, der das Abenteuer der Erkenntnis höherer Welten noch nicht durchgemacht hatte.

Ich hatte Rudolf Steiner etwa seit 1907 immer wieder in seinen Versammlungen erlebt, zuerst in Dresden, an Abenden, bei denen er schmal, dunkel, fast unauffällig, in irgendeinem halb dunklen und halb leeren Saal vor ein paar Dutzend älterer Damen sprach, dann den raschen Aufstieg in Berlin, wo er schon 1912 im überfüllten Festsaal des Architektenhauses in der Wilhelmstraße Tausende von Zuhörern mit seinen Vorträgen anlockte. Ich sehe noch das Bild eines Abends: den strahlend hell erleuchteten, riesigen Raum, die wogenden Menschenmassen vor dem großen Podium mit dem noch leeren Rednerpult, im Hintergrund ein vom Boden bis zur Decke reichender, auf der Hälfte geteilter Vorhang — und unter diesem Vorhang, gerade in seiner Mitte, reglos, wartend, zwei auf das leere Podium vorragende Füße in schwarzen Halbschuhen, die da unbeweglich standen und des Augenblicks harrten, in dem sie sich in Bewegung setzen konnten. Sie mußten eine ganze Weile warten, bis auf einmal der Vorhang, der bisher vor dem Manne, dem diese Füße gehörten, zusammengegangen war, hinter der schmalen, schlanken, schwarzen Gestalt im langen Gehrock zusammenschlug, so daß Rudolf Steiner plötzlich wie aus der Erde aufgetaucht am Rande des Saales stand, reglos mit hängenden Armen und langem, schmalem, leicht abwärts geneigtem Gesicht unter dem dichten schwarzen Haar. Er stand und wartete, bis das Sprechen und Lachen im Saal ganz von selbst immer mehr abgeebbt und verstummt war. Dann erst schritt er langsam zu dem Rednerpult und begann, die Augen unter den dunklen Brauen immer noch gesenkt, halblaut und langsam zu sprechen, bis er auf einmal ein paar Worte, einen Satz fast hastig, überraschend hervorstieß und dabei zum erstenmal die schweren Augenlider hob und nun den Blick brennend und bannend auf die faszinierten, atemlosen Zuhörer richtete. An jenem Abend lautete dieser Satz der Suggestion, knapp und kurz, klanglos, beinahe auch atemlos über die Hörermassen hingeworfen: 'Das ist der Tod!' — Durch den Saal glitt ein zitterndes Atmen: der große Rattenfänger hatte die Schar der Kinder nun fest in seiner Hand. Das war das Bild, das ich in mancher Begegnung von Rudolf Steiner empfangen hatte.

Der Freund Paul Remer 

Nun kam Remer und stellte daneben und davor das Bild des jungen Gelehrten, der die naturwissenschaftlichen Schriften Goethes in der großen Gesamtausgabe herausgab, mit Naturalisten und Symbolisten sich zu nächtlichen Stunden herumschlug und Mengen Pilsener Bieres dazu vertilgte. Er war möblierter Herr bei der Kapitänswitwe Frau Eunicke, bis ihn das Fräulein von Sievers, das lange in Bologna studiert hatte und nun nach Berlin gezogen war, als Bibliothekar engagierte, damit er ihre umfangreiche Bibliothek ordne und katalogisiere. Diese Bibliothek enthielt die theosophische Literatur des In- und Auslandes; denn Fräulein von Sievers war eine große Theosophin, hatte die Schriften der Annie Besant und der Frau Blavatzky und die ganze übrige umfassende Literatur eingehend studiert und brachte nun durch ihr Engagement auch den naturwissenschaftlichen Doktor Steiner mit der Theosophie in Berührung. Der wurde mächtig von ihr angezogen, vertiefte sich immer mehr in die geheimnisvolle Welt, und schließlich ging er ganz zu ihr über. Er heiratete Fräulein von Sievers; er wurde einer der führenden Männer der europäischen Theosophie, und als der Streit um Krishnamurti die Spaltung in die theosophische Gesellschaft brachte, da schloß Rudolf Steiner rasch entschlossen ihre europäischen Zweigverbände zu einer Anthroposophischen Gesellschaft zusammen und machte sich zu ihrem Führer. Mit großem organisatorischem Talent baute er die innere Gliederung um sich auf und zu einem Ganzen, das von ferne zuweilen an Stefan George und den Kreis erinnerte, der um ihn war. Er schuf nach eigenen Entwürfen den hölzernen Tempelbau von Dornach in der Schweiz, rief Schulen ins Leben, die auf den Ideen der Anthroposophie aufgebaut waren, und wurde vor allem nach 1918 eine der wesentlichsten Mächte nicht nur im Reich. Unter Remers Erzählungen erstand die Gestalt des Mannes Steiner, nicht nur das Bild einer Ideologie, und das gleiche ergab sich bei vielen anderen seiner Zeitgenossen.

[Quelle: Paul Fechter, An der Wende der Zeit. Menschen und Begegnungen. Gütersloh: Bertelsmann 1949 S. 381-384]

Ein Nachruf auf Rudolf Steiner (Paul Fechter 1925)

Ein merkwürdiger Mensch ist mit Steiner aus der Welt gegangen, ein Mensch eines besonderen geistigen Schicksals, in dem sich zugleich das Schicksal einer ganzen Zeit wie in einem wunderlichen Sinnbild spiegelte.

Rudolf Steiner, ungekrönter König der deutschen Theosophie, Magus und Prophet einer neuen Religion, kam ursprünglich wie seine ganze Generation von den Naturwissenschaften her. Dieser Künder neuer seelischer Reiche und Kämpfer gegen den schnöden Materialismus der Zeit nahm seinen Ausgang vom Jena Ernst Häckels, vom Monismus und der modernen Naturerkenntnis. Seine geistige Nahrung bezog er nicht aus der Philosophie, sondern aus der Literatur. Er war Germanist und hat u.a. als Herausgeber von Goethes naturwissenschaftlichen Schriften gewirkt. Auch mit der lebenden Literatur stand er in nahen persönlichen Beziehungen. Er gehörte zum Kreise derer um Otto Erich Hartleben, und gegen alkoholhaltige Flüssigkeiten hat er damals genau so wenig eine Abneigung gehabt wie der Dichter des Rosenmontags.

Freilich, diese Beziehungen hörten eines Tages auf, als Steiner, wie man erzählt, durch eine Frau mit der Theosophie in Berührung kam. In jener Zeit – es muß so um die Jahrhundertwende gewesen sein – muß er einmal merkwürdige seelische Erlebnisse gehabt haben, die eine völlige Umstellung seines Lebens nach sich zogen. Der Häckel-Schüler und Naturwissenschaftler sowie der Germanist versanken. Es erstand der Verkünder höherer Welten. Rudolf Steiner schloß sich zunächst der allgemeinen, der internationalen theosophischen Bewegung an und begann auf Vortragsreisen für deren Ideale und Erkenntnisse zu werben. Er bereist(e) Deutschland und die europäischen Länder, und wer ihn damals einmal gehört hat, begriff, daß er von diesem hageren, blassen Menschen mit den tiefliegenden, nur selten unter den schweren Lidern aufbrennenden Augen eine seltsame suggestive Wirkung ausging. Er sprach damals meist vor halb oder ganz leeren Sälen, vor alten Weiblein beiderlei Geschlechts. Es focht ihn nicht an. Er redete, kam wieder und redete von neuem, beschwörend, eindringlich, mit großen, flügelmännischen Gebärden, und er wirkte. Die Zahl der Verehrer, der Gläubigen wuchs. Um Steiner als Mittelpunkt scharte sich ein immer wachsender Kreis von Anhängern.

Und da wagte er den entscheidenden Schritt. Er machte sich selbständig. Er löste die deutsche Sektion von dem internationalen Verband der Theosophen, erklärte der angelsächsischen Richtung der Anni Besant und Blavatzky den Krieg, und stellte sich an die Spitze seiner deutschen Anhänger, die er nunmehr zur Anthroposophischen Gesellschaft umtaufte.
Und das Wagnis gelang. Die Mehrzahl der Getreuen blieb bei ihm – er hatte einen Wirkungsbezirk, in dem er das Zentrum war, das Zentrum und die eigentliche Zentralsonne. Denn die war nicht die Lehre, die war er, mußte er sein, weil er die entscheidenden, letzten, geheimsten Erkenntnisse der höheren Welten besaß, zu denen die Jünger nur ganz allmählich, im Aufstieg durch immer exotischere Ringe aufsteigen konnten. Sie kamen immer näher an die Wahrheit, je näher sie zu ihm kamen, in den immer höheren, immer kleineren Kreisen – die letzte, höchste Wahrheit des Schauens und Erkennens hatte er.

Darauf beruhte seine Wirkung und beruhte seine Macht. Beide waren nicht gering, eben weil er als der allein Wissende im Zentrum stand. Mit zäher Energie baute er seinen Bereich aus durch seine Vorträge, durch interne Kurse, durch Sammeln von Anhängern in allen europäischen Ländern. Und die Zeit war ihm günstig, denn sie hatte, wie er, die Wendung vom Materialistischen zu einer neuen Geistigkeit und Religion vollzogen. Zum wenigsten in ihrer Sehnsucht. Und Steiner mußte den Glauben erwecken, daß er dieser Sehnsucht Erfüllung brachte. Mit seiner neuen Erkenntnislehre, in die er uralte Mystik und Märchen verwob, reizte er das religiöse wie geistige Suchen – und reizte die Neugier, so daß er schließlich Anhänger in allen Lagern hatte, bei den Frommen wie bei den Enttäuschten, den Suchenden wie den großen Kindern.

Was er [selbst] wirklich war, das ist schwer zu sagen. Er muß einmal Erlebnisse besonderer Art gehabt haben, sonst wäre seine Wirkung unerklärlich. Auf der anderen Seite hat er diese Erlebnisse klug benutzt [genutzt] , um sich selbst Macht und Möglichkeit[en] zu sichern. So geriet sein Bild ins Schwanken. [:] Christus sagten die einen, Cagliostro die ander[e]n. Die Wahrheit wird wohl die sein, daß Gutes und Böses in wunderlicher Mischung in ihm war, daß er selbst nicht wußte, was das Wirkliche. Seine Bücher in ihrer unlesbaren Unklarheit, das Angedachte, Halbe seiner Vorträge sprach dafür. Und zugleich das Unreale, Wirkungslose seiner Taten, sobald er in die Realität hinüberzugreifen versuchte. Seine Nachkriegsuntersuchungen, die „Soziale Dreigliederung“, der „Neue Tag“ versanken nur alsbald wieder. Wie denn Steiner in den letzten Jahren überhaupt nicht mehr das alte Glück hatte. Sein Tempel in Dornach, der nach seinen Plänen in Holz erreichtet war, brannte ab, den neuen, der in Beton erstehen sollte, hat er nicht mehr erlebt.

Es wird noch vieles über ihn gesagt und geschrieben werden, wichtiger und interessanter ist die Frage, wer ihn in seiner Weise ersetzen wird und ob ihn jemand wird ersetzen können. Propheten pflegen im allgemeinen keine Nachfolger zu haben.

Quelle [Deutsche Allgemeine Zeitung, Berlin, 31.3.1925]
foto: Max Glauer / Public domain – wikimedia.org/wikipedia/commons/c/c5/Paul_Fechter.jpg

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