Den Krieg herbeischreiben

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Ein Kommentar zu einem derzeit brisanten Thema

von Anne Hofinga – Eines meiner einfachsten und gleichzeitig wirksamsten Sozialprojekte entstand im Jahr 1999 im kleinen Städtchen Jelnja in Westrussland. Im 2. Winter nach der russischen Wirtschaftskrise 1998 fielen in einer der Schulen reihenweise Kinder vor Hunger in Ohnmacht. Die Leistungen gingen dramatisch zurück. Die Stadt hatte aus Geldmangel die kostenlose Schulspeisung einstellen müssen. Sie war aber in der von Arbeitslosigkeit geprägten Stadt für viele Kinder die einzige Mahlzeit am Tag. Wir übernahmen bis zu den Sommerferien die Kosten für die Schulspeisung. Bald kamen Kinder auch dann in den Unterricht, wenn sie krank waren… Parallel entwickelten wir mit dem sehr engagierten Schulleiter und einem Schülervater mit eigenem Hof ein Schulgarten-Projekt. Alle Schüler halfen dort beim Anbau von Gemüse, die großen Jungen machten den Traktor-Führerschein und halfen dem Bauern auf den Feldern, die großen Mädchen lernten Haltbarmachen und Vorratshaltung. Schon im Winter darauf reichten die selbst gezogenen Gemüsevorräte, um davon den 100 ärmsten Schülern täglich ein Mittagessen zu reichen. Hinzu kamen Feldfrüchte, Eier, Milch und Milchprodukte, die der Bauer im Austausch für die Hilfe der ältesten Schüler lieferte. Unsere Förderung war nicht mehr nötig.

Bis Anfang der 2000er Jahre war ich viele Male in Jelnja und weiß daher sehr genau, wo es geografisch liegt:

  • Östlich von Smolensk in Westrussland
  • 350 km zur (nächstgelegenen!) Nordgrenze der Ukraine (zu Russland)
  • mehr als 1000 km zur Ostgrenze der Ukraine (zu Russland) mit den Kriegsgebieten im Donbass
  • nur 170 km zur Ostgrenze zwischen Belarus und Russland. 

Im Westen und in der Ukraine überschlagen sich derzeit Medien und Politik mit Horrormeldungen von Soldaten und Kriegsgerät, die in Jelnja (170 km vor Weißrussland!) zusammengezogen worden seien, um in nächster Zukunft die Ukraine mit einem Großangriff zu überrollen. Ich gehe nicht davon aus, dass die westlichen Journalisten keine Karten lesen und richtig interpretieren können. Die Angabe „nur 240 km von Jelnja bis zur ukrainischen Grenze“, die man in der Zeit, im Spiegel, der Taz u.a. lesen konnte, ist also eine gezielte Lüge. Mich erinnert das fatal an historische Lügen: Den „unerhörten Bandenüberfall auf den Sender Gleiwitz“, angeblich von polnischer Seite, am 31. August 1939, auf den hin Deutschland vom 1. September 1939 hin „zurückschoss“ und den 2. Weltkrieg auslöste. Auf der Grundlage einer deutschen False-Flagg-Operation. Einer Lüge. Oder an die „Massenvernichtungswaffen im Irak“, die 2003 nach dem Einmarsch der USA dort nie gefunden wurden.

Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier von Westmedien und -Politikern ein neuer großer Krieg regelrecht herbeigeschrieben und -geredet wird. Das Narrativ „Russlands Armee steht an der ukrainischen Grenze und wird in Kürze einmarschieren“ wird gebetsmühlenartig wiederholt, regelrecht eingepeitscht. Wenn die Stimmung noch mehr aufgeheizt wird, wird in irgendeiner nicht eindeutigen Situation, z.B. beim Flugverkehr, eine kleine Fehlinterpretation genügen, um eine große und nicht mehr aufzuhaltende Eskalation auszulösen. Oder die Eskalation wird wieder durch eine False-Flagg-Operation provoziert. Das Szenario, das dann Russland „unzweifelhaft“ die alleinige Schuld zuweist, ist sicherlich schon geschrieben.

Wie 2008, als der damalige Präsident Georgiens, Saakaschwili, versuchte, die abtrünnigen Regionen Südossetien und Abchasien mit Gewalt zurückzuerobern, während die Welt von der Olympiade in Peking abgelenkt war. Russland kam den angegriffenen Regionen zu Hilfe, was den Krieg nach fünf Tagen beendete. Ein Jahr später bestätigte die von der EU eingesetzte „Unabhängige Untersuchungskommission zum Konflikt in Georgien“ unter der Leitung der Schweizer Diplomatin Heidi Tagliavini, dass tatsächlich Saakaschwili der Angreifer war, und nicht Russland. Trotzdem schreiben und sprechen bis heute alle sogenannten Leitmedien von „Russlands Überfall auf Georgien“.

Ich lebe und arbeite seit über 30 Jahren in Russland. Das ist immer wieder nicht einfach, denn Russland tut sich schwer mit initiativen Bürgern. Aber die Russlanderfahrung meines ganzen Lebens sagt mir, dass Russland keinen Krieg will. Mit niemandem. Es kann aber vielleicht auf Dauer nicht verhindern, dass ihm ein Krieg aufgezwungen wird. Durch manipulierte Narrative, False Flagg-Operationen oder andere Fallen. Zudem: wenn ein so stolzes Land wie Russland über Jahrzehnte gezielt zum Sündenbock und Prügelknaben eines Großteils der Welt gemacht wird, kann auch einmal der Punkt kommen, wo die Selbstachtung mehr einfach nicht zulässt.

Die Situation ist brandgefährlich! Ein Funke genügt inzwischen für den nächsten Krieg. Das kann ein Stellvertreterkrieg in der Ukraine sein. Genauso kann es zum nächsten Weltenbrand eskalieren.

Ich kann nicht begreifen, wie „Leitmedien“ und Politiker das wollen können. Und ebenso wenig, dass wir, der Souverän, das offenbar zulassen, ohne uns zu wehren.

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foto: hofinga

Die Autorin dieses Beitrags ist unter anderem Mitgründerin und Leiterin des Deutsch-Russischen Sozialforums, eines Netzwerkes für deutsche und russische Praktiker der Sozialarbeit im Rahmen des Petersburger Dialogs. Gründerin und Vorstandsvorsitzende der Perspektive Russland e.V. (vormals Russlandhilfe e.V. (Frankfurt am Main)
Gründerin und Vorstandsvorsitzende des Zentrums für soziale Entwicklung und Selbsthilfe „Perspektiva“ (Moskau
)

1 Kommentar. Hinterlasse eine Antwort

  • WOLFGANG PÜSCHEL
    18. Dezember 2021 19:49

    Den Krieg herbeischreiben. Anne Hofinga, 9.XII.2021

    "Oh diese Welt, – womit kann ich sie wohl vergleichen?
    Mit dem Spiegelbild des Mondes in einem Tropfen Tau, glitzernd
    am Schnabel der wilden Ente." Dojen,Japan,1200-1253 / Soto Zen

    In der Kubakrise hat Russland seine geistige FLEXIBILITÄT bewiesen.
    Damals stand die Welt am Abgrund der Freiheit.
    Es wird keine größere Gewaltaktion geben, da alle Beteiligten
    wissen, das es im 21.Jhdt. keine erbauliche Konfliktlösungen durch Gewalt gibt.
    Vielen Dank für den Textbeitrag Frau Hofinga.
    Wolfgang Püschel, Grevenburg,den 18.XII.2021

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