„… dann sind Sie ein Schuft!“

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Rudolf Steiners Solidarität mit Bedrängten


Wolfgang G. Vögele –
"Steiners Persönlichkeit ist nicht eindeutig, sondern kompliziert. Bis auf weiteres müssen wir sie für sittlich halten", hieß es 1922 auf einer Konferenz von "nichtanthroposophischen Kennern der Anthroposophie". [1] Die Zweifel an Rudolf Steiners moralischer Integrität wurden nie ganz ausgeräumt. Werden sie nicht durch neuere historische Studien sogar bestätigt? Helmut Zander hält Steiners Entwicklung zwischen 1900 und 1904 für eine "biographische Kriminalgeschichte" [2] und erhebt massive Plagiatsvorwürfe gegen ihn.
Wer ohnehin keine hohe Meinung von der Persönlichkeit Steiners hat, wird vermutlich auch durch "anekdotische Einzelfälle", die ihn als ethisch Handelnden zeigen, nicht umzustimmen sein. Dennoch gebietet es die Fairness, einige dieser unscheinbaren Episoden festzuhalten, die zeigen, wie Rudolf Steiner für Menschen Partei ergriff, die zu Unrecht beschuldigt worden waren.

I. Versuch einer Ehrenrettung

Steiners Wiener Jugendfreund Fritz Lemmermayer erinnert sich: 
"Ein Mädchen, dem wir freundschaftlich zugetan waren, wurde von einem Herrn aus Sachsen in der Ehre angegriffen. Rudolf Steiner erfuhr davon und stellte den Angreifer zur Rede. Dieser, den Ernst der Situation wahrnehmend, blies zum Rückzug – er leugnete alles. Rudolf Steiner ließ nicht so leichten Kaufes los. Äußerlich gelassen, jedoch energisch und bestimmt, sagte er 'Gut für Sie, wenn Sie die bösen Reden nicht getan haben. Wenn Sie sich aber zu so bübischer Verleumdung hinreißen ließen, ohne Grund und Ursache, dann sind Sie ein Schuft!' Der Herr erblasste, neigte sich leicht, und fort war er. Es war eine Freude zu erleben, wie Rudolf Steiner so tapfer und ritterlich eine Lanze brach für die Schuldlose." [3]

II. Steiner verteidigt Dreyfus

Als Herausgeber des Berliner "Magazins für Literatur" mischt sich Rudolf Steiner auch in die "Dreyfus-Affäre" ein, die einen europaweiten Skandal ausgelöst hatte. [4] Steiner verteidigt in mehreren Aufsätzen den 1894 wegen angeblicher Spionage angeklagten und eingekerkerten französischen Hauptmann Alfred Dreyfus. Auch lobt er den Protest Emile Zolas gegen das Urteil. Steiner: "Die Menschen mit einem klaren Blick für die Vorgänge des Lebens müssen längst von der vollkommenen Schuldlosigkeit des unglücklichen Gefangenen auf der Teufelsinsel überzeugt sein." Auf den Vorwurf, deutsche Publizisten mischten sich in französische Angelegenheiten ein, erwiderte Steiner: „Ja, hört denn menschliches Mitgefühl da auf, wo die Strafgesetzparagraphen eines Staates aufhören?“… „Nichts kann uns abhalten, mit einem Menschen, der nach unserer Meinung unschuldig leidet, Mitgefühl zu haben.“ Steiner nennt Dreyfus, obwohl ihm dessen Chauvinismus zuwider ist, einen "Märtyrer der Ungerechtigkeit, Verblendung und Korruption". Hier werde das Recht der Persönlichkeit "mit Füßen getreten". Dreyfus wurde 1899 begnadigt, aber erst 1906 freigesprochen und rehabilitiert. [Wenn auch die aktuelle Diskussion um Julian Assange und der Umgang der Justiz mit ihm an dieser Stelle vielleicht etwas weit hergeholt erscheint, sei vielleicht doch die Frage gestattet, was Rudolf Steiner wohl heute sagen würde. d. Red.]

III. Eklat um eine Dichterin

Im Jahre 1900 kommt es in dem Literatenclub "Die Kommenden" zu einem Eklat, als die damals noch unbekannte deutsch-jüdische Dichterin Else Lasker-Schüler von dem Schriftsteller Heinrich H. Houben beleidigt wird. Ob dabei auch ein antisemitisches Motiv mitspielte, ist umstritten. Steiner, der dem Vorstand des Clubs angehört, zeigt sich jedenfalls mit der Dichterin solidarisch, verlässt nach dem Vorfall spontan das Lokal, nicht ohne Houben gehörig die Meinung gesagt zu haben. Sigrid Bauschinger fasst den Vorfall so zusammen: 

"Else Lasker-Schüler stieß immer wieder auf Bewunderung und zugleich Ablehnung, wie eine Kontroverse innerhalb der Kommenden zeigt, die ihretwegen sogar aufgelöst und neu gegründet wurde. Beim 29. Abend am 4. Oktober 1900 hatte Rudolf Steiner die Leitung übernommen. Zwei Tage später in einem Brief an Jacobowski beschreibt die Dichterin die Vorgänge, in deren Verlauf sie 'so schändlich und zwar öffentlich von Herrn Houben beleidigt' worden sei, daß viele, darunter Steiner, die Veranstaltung verlassen hätten.

Was war passiert? Else Lasker-Schüler war, zu ihrer eigenen Überraschung, wie sie sagt, von mehreren Herren, darunter auch von Rudolf Steiner, aufgefordert worden, etwas zu lesen. Sie hatte zwar keine Gedichte dabei, fand aber in ihrer 'üblichen Tasche' unter Schlüsseln und Schwefelhölzern eine kleine Skizze, da sie gerade bei einer 'älteren Freundin, Frau Gräfin Schwerin' gewesen war, der sie immer alles vorlesen mußte. "Nun stellt sich Herr Houben hin und grinst (ironisch?) und ruft. 'Frau Else Lasker-Schüler will auf Wunsch, wie man so sagt, vortragen.' Der nicht wiederzugebende Ton tat das seine, Else Lasker-Schüler und ihre Anhänger verließen das Café."

Heinrich Hubert Houben, ein 25jähriger Redakteur und Dozent an der Humboldt-Akademie, den, laut Samuel Lublinski, "ein gewisser philiströser Zug gegen eine so eigenartig gemischte Persönlichkeit wie Frau Lasker" einnehmen mußte, war Vorstandsmitglied der Kommenden. Er schickte ebenfalls einen Bericht über den "sensationellen Verlauf" des Abends an Jacobowski. Aus ihm geht hervor, daß er nur widerwillig die Lesung gestattet hatte. Außerdem hätte ihn Steiner beim Hinausgehen dermaßen beleidigt, daß er "Ohrfeigen verdiente", wenn er noch einmal in Houbens Gesellschaft zu kommen wage. Houben verbot darauf Else Lasker-Schüler und Rudolf Steiner im Namen der Gesellschsft "bis auf Weiteres" die Teilnahme an den Abenden. Bereits am nächsten Tag forderte Jacobowski Houben zum Austritt aus der Vereinigung aus. Als dieser sich weigerte, wurden die Kommenden aufgelöst und ohne Houben neu gegründet. Houbens eigene Gründung gleichen Namens war nur ein kurzes Leben beschieden.

Diese im Grunde nicht besonders wichtige Episode aus Lasker-Schülers Anfängen ist jedoch das erste Beispiel eines Vorgangs, der sich noch oft wiederholen wird. Wenn sie auf Ablehnung stieß, hatte sie dafür ein feines Gespür. So merkte sie sofort, daß "Herr Houben stets mich als überflüssig betrachtete", wie sie Jacobowski mitteilte. In solchen Fällen reagierte sie prompt und kompromißlos. Jedesmal ergreifen aber auch Verteidiger für sie Partei. Sie mögen zwar in der Minderzahl sein – an dem bewußten Abend verließen nur drei Herren das Lokal, Rudolf Steiner, Peter Baum und ein Unbekannter –, aber es sind immer die Bedeutenderen, wie sich ja auch Ludwig Jakobowski auf Lasker-Schülers Seite schlug." [5]

IV. Diskriminierung eines Sprachbehinderten

Etwa zur gleichen Zeit, um 1900, als Steiner an der sozialdemokratischen Berliner Arbeiterbildungsschule Kurse über Redeübung leitete, kam es ebenfalls zu einem Zwischenfall: 

"An einem dieser Schüler hatte Dr. Steiner wegen seiner exakten Denk- und Ausdrucksweise ein besonderes Wohlgefallen, trotzdem dieser ein wenig stotterte. Er sagte ihm einmal: 'Wissen Sie, mein lieber Herr Kreplin, Sie haben heute mein philosophisches Herz ganz besonders erfreut.' An diesen jungen Menschen knüpft sich ein Auftritt, der uns die ungeheure Energie, die bei all seiner Güte Herrn Doktor zu Gebote stand, unvergeßlich einprägte. 
Der kleine Kreplin war ein spöttisches Kerlchen, der mit seinen Gegnern in der Diskussion nicht besonders milde verfuhr. So hatte er auch einst einen baumlangen robusten Genossen ziemlich scharf abgefertigt; dieser, ihm nicht geistig gewachsen, wurde, wie es in solchen Situationen oft geht, grob und warf dem Kreplin sein Stottern vor. Kaum hatte er die ersten Worte gesprochen, da rief der Herr Doktor dazwischen: 'Das geht nicht, es ist ganz ungehörig, irgend ein körperliches Gebrechen eines Gegners in der Diskussion auch nur zu erwähnen.' 
Der Mann, verärgert, wie er war, wollte noch etwas dagegen sagen, da donnerte ihn Dr. Steiner an, daß wir alle zusammenschraken: 'Schweigen Sie!' – Einen Augenblick entstand eine etwas bängliche Pause, was würde dieser klotzige Mensch sagen oder tun?

Aber ganz still und verschüchtert, wie ein Schulbub, stand er noch einen Augenblick stumm da und setzte sich dann ohne irgendeinen Laut auf seinen Platz; auch nachher blieb er ganz stumm, ich glaube bestimmt, er hat nicht einmal innerlich räsoniert. – Man sah an solchen Szenen, wie ich sie auch später einige wenige Male erlebte, wie die außerordentliche Milde Herrn Doktors nicht Schwäche, sondern eben höchste Kraft war." [6]

V. Skandalöse Verse?

In einem Vortrag nimmt Steiner den Herausgeber der Zeitschrift "Das Reich", Alexander von Bernus, in Schutz. Dieser hatte von Anthroposophen Schmähbriefe erhalten, die seine eigenwilligen Gedichte kritisierten, in denen er versuchte, den Gang der Kulturepochen im Sinne der Anthroposophie darzustellen. Steiner nannte das Verhalten der Mitglieder "geschmacklos". Die Bedeutung dieser unabhängigen Zeitschrift – die einzige, die während des Weltkriegs anthroposophischen Gedanken Raum gab – werde kaum erkannt [7]

Fazit

Steiner hat der Mehrheit (heute: dem Mainstream) nie nach dem Munde geredet und ist den vermeintlich Stärkeren unerschrocken entgegengetreten. Wegen seiner menschlichen Qualitäten wurde Steiner auch von Nichtanthroposophen respektiert und wertgeschätzt. Bei seinem Ableben resümierte das "Israelitische Familienblatt Hamburg": "Später hat sich Steiner aus dem politischen und literarischen Tagesgezänk in reinere Regionen geflüchtet: in die Welt der religiösen Mystik. Wie man aber auch über sein Werk, die Begründung der anthroposophischen Wissenschaft, denken mag – ein Wahrheits- und Gottsucher von ehrlichem Streben und reinem Willen ist er auch auf diesem Gebiet gewesen." [8]

 


foto: wikipedia / gemeinfrei: Else Lasker Schüler

Anmerkungen

1 GA 259. S.795 ff.
2 Zander: Anthroposophie in Deutschland, S. 545
3 Fritz Lemmermayer: Freundschaft mit Rudolf Steiner, in: ders..; Erinnerungen.2. Aufl., Basel 1992, S. 36
4 1898 im "Magazin für Literatur", GA 31, S. 277-281, vgl. Silvain Coiplet: Ein neues Licht auf die Dreyfus-Affäre. Institut für Dreigliederung, 12.12.2001 https://www.dreigliederung.de/news/01121200
5 Sigrid Bauschinger: Else Lasker-Schüler. Biographie. Wallstein Verlag o.J., google-books, S. 70ff; Briefzitate in: Fred B. Stern: Auftakt zur Literatur des 20. Jahrhunderts. Briefe aus dem Nachlaß von Ludwig Jacobowski. Band I: Die Briefe, Heidelberg 1974, S.527-533
6 Johanna Mücke, in: Mücke/Rudolph: Erinnerungen an Rudolf Steiner, Basel 1979, S. 22 f.
7 Vortrag Stuttgart, 13. Mai 1917, GA 174b, S.231 f.
8 C.B., Zum Gedächtnis Rudolf Steiners, in: Israelitisches Familienblatt Hamburg, undatierter Zeitungsausschnitt (vermutlich April 1925), Rudolf Steiner Archiv

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