Am 2. April 1925 erschien in der Stettiner Ostsee-Zeitung ein Nachruf von Walter Kühne. Wolfgang G. Voegele hat diesen Nachruf in einem 1989 von Arfst Wagner herausgegebenen Buch "Stuttgarter Verhältnisse" entdeckt.
Rudolf Steiner †
Am 30. März starb in Dornach bei Basel in der Schweiz der Führer der Anthroposophischen Bewegung und Gesellschaft Dr. Rudolf Steiner. In den 64 Jahren seines Lebens hat er ein Werk zustandegebracht, von dem als menschlicher Arbeitsleistung auf geistigem Felde jeder, der auch nur etwas mit ihm in Berührung gekommen ist, sagen muss: es ist erstaunlich, dass ein Mann das alles hat schaffen können. Steiners Werke sind eine kleine Bibliothek, die bisher veröffentlichten Vorträge und Vortragsreihen kann man auf 60 Bände berechnen, in den Archiven, die die Nachschriften seiner Vorträge gesammelt haben, ruhen noch weit mehr. Seine Arbeitsstätte in Dornach war ein internationaler Mittelpunkt geworden. Gegen den Zustrom von Menschen zu ihm ist der Zustrom, der vor Jahrzehnten zu Leo Tolstoj erfolgte, unbedeutend zu nennen.
Wie brachte Steiner dieses Werk zustande? Durch die Weiterführung der größten geistigen Impulse, die im deutschen Idealismus, im Zeitalter Goethes gewirkt haben. Im Mittelpunkt von Goethes Leben steht der ‚Faust’, die große Dichtung vom Streben der Menschen, vom Streben zum Vollmenschen, ja Übermenschen, von der uns umgebenden Sinneswelt in das Reich der Mütter, zu den geistigen Urbildern aller Kreatur. Nehmen wir die großen idealistischen Philosophen: Fichte, Schelling und Hegel, sie strebten zu einer absoluten Erkenntnis, die alle Unsicherheiten beseitigen sollte, die mit dem begrenzten, sich selbst in der Philosophie Kants begrenzenden Denken verbunden sind. Man denke an Novalis und die Romantiker – und ihren Drang ins Übersinnliche.
Goethe hat immer wieder betont, dass für ihn seine Naturwissenschaft und seine Kunst zwei Metamorphosen seines Wesens seien. Steiner hat methodisch durch Neuausgaben der naturwissenschaftlichen Werke Goethes, durch eine ganze Reihe von Veröffentlichungen über Goethe überhaupt seinen Zeitgenossen von den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts ab die Keime einer neuen Naturwissenschaft ans Herz gelegt. Denn diese Naturwissenschaft, die ins Lebendige einzudringen versucht, ist nicht bloß Sache des Kopfes, sondern des ganzen Menschen, der als Ganzes Erkenntnisorgan werden müsse. Man sieht leicht, welche Widerstände diese neuen Gesichtspunkte aufrufen mussten in einer Zeit, als die Naturwissenschaft der äußeren Welt geradezu Triumphe feierte. Aber Steiner ließ sich nicht beirren. Er kannte die moderne Naturwissenschaft so gut wie die Naturwissenschaftler selber – er suchte sie aber mit ihrer eigenen Methode, in strenger, wissenschaftlicher Methode, weiter zu führen.
Seine Aufsätze ‚Mein Lebensgang’ aus den letzten fünfviertel Jahren, die seine Entwicklung im Zusammenhange mit der gesamten Zeitkultur seit den 70er, 80er Jahren zeigen, verraten, dass er eine einzigartige Begabung mitbrachte: einen Einblick in geistige Welten von einer Weite, wie sie vor 100 Jahren durch die Fragmente des Novalis durchgeblitzt ist. Aber er hat geduldig gewartet damit, diese Kunde an die Menschen heranzutragen, bevor er nicht einen vollen Anschluss an die Wissenschaft seiner Zeit gewonnen. Dadurch wurde er befähigt, von ‚Geisteswissenschaft’ zu sprechen und eine Bewegung einzuleiten, die andere Menschen dazu führen sollte – und auch eine ganze Anzahl dazu geführt hat –, selbst die Geisteswelten als Erfahrung kennen zu lernen, in denen er sozusagen zu Hause war.
Das mutet natürlich viele Zeitgenossen als Märchen an, aber die Fülle der Anregungen, die Steiner in die verschiedensten Wissenschaften hat fließen lassen: die Schöpfung einer neuen Bewegungskunst, der Eurythmie; die Gestaltung des großen Werkes der Architektur, das Goetheanum genannt; die Veröffentlichung großer Mysteriendramen, die er selber vor mehr als zehn Jahren in München inszeniert hat; die Leitung der Freien Waldorfschule in Stuttgart, die über 800 Kinder in einer Weise erzieht, die man als wirkliche pädagogische Kunst ansprechen kann und viele andere Arbeit in wissenschaftlichen Forschungsinstitutionen für Medizin, Biologie usw. wird doch mehr und mehr auch seine Gegner davon überzeugen, dass mit ihm einer der letzten Universalmenschen dahingegangen ist, wie unsere Zeit sie so notwendig braucht.
Steiner wollte jeden Menschen zur Erfassung seiner eigenen tiefsten Kräfte, der in ihm schlummernden geistigen Wesenheit führen, so weit das nach der Lebenslage des Einzelnen möglich ist. Das gute Wesen des Menschen aufzurufen und in Aktion zu bringen, kann man wohl Anthroposophie nennen. Selbst Gegner haben mit größter Achtung von dem Wert der Anleitungen gesprochen, die Steiner für die Organisierung des menschlichen Seelenlebens und Lebens überhaupt gegeben hat. Wer sie nicht selbst auf sich hat wirken lassen und ihre steigernde Kraft nicht kennt, sollte nicht über sie urteilen und gar aburteilen wollen. Wir Deutschen brauchen heute in der Welt die größte Steigerung aller unserer Kräfte und wir sollten hingehorcht haben und hinhorchen auf ein Lebenswerk, das im besten deutschen Sinne menschlich und menschheitlich arbeiten wollte und hat arbeiten können. Denn für wahres deutsches Geistesleben ist die Welt heute durchaus empfänglich. Menschen des Westens und des Ostens, des Nordens und des Südens haben sich in der Anthroposophischen Gesellschaft mit denen der Mitte gefunden. Wahrhaft menschlich und menschheitlich zu arbeiten, das ist im Sinne Steiners das wahre christliche Leben. Und so stand, was erst recht für unsere Zeitgenossen erstaunlich ist, im geistigen Mittelpunkt dieses Lebens die Realität des Christus. Von ihm eine neue Kunde zu bringen, war Steiners Bemühen. Dass er damit am meisten Widerstand erlebt hat, ist natürlich. Aber nun, wo er seine bisherige Arbeit hat verlassen müssen, dürfte wohl auch in diesem Punkte, dem Mittelpunkt seiner Lebensarbeit, die unbefangene Würdigung einziehen können.
Quelle: Walter Kühne: Die Stuttgarter Verhältnisse. Schaffhausen 1989, S. 129-132.
Der aus Stettin (polnisch Szczecin) stammende Anthroposoph Walter Kühne (1885-1970) studierte Technik, Nationalökonomie, Kunstgeschichte und Slawistik. Er galt Experte für russische, polnische und tschechische Kultur. Seine Bibliographie umfasst 1060 Nummern. 1919 leitete er die Berliner Ortsgruppe des Bundes für Dreigliederung, 1920 wurde er von Rudolf Steiner als Geschäftsführer dieses Bundes nach Stuttgart berufen. Nach Auseinandersetzungen mit führenden Mitarbeitern schied er 1921 aus dieser Arbeit aus. Kühne setzte sich bis zuletzt mit öffentlichen Vorträgen für die Anthroposophie ein. Er gehörte zu den wenigen Anthroposophen, denen es gelang, einen Nachruf auf Steiner in einer Tageszeitung zu veröffentlichen.






