Damals. „Eine Schändung Goethes“

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von Wolfgang G. Voegele

Zu den wenig bekannten"Augenzeugen" Rudolf Steiners gehört der aus Baden-Baden stammende Schriftsteller Heinrich Berl (1896-1953). Zunächst als Kaufmann tätig, schrieb der Autodidakt später musikästhetische, lokalhistorische und religionsphilosophische Aufsätze und arbeitete als Lektor badischer Verlage.

Nach dem Ersten Weltkrieg suchte er nach einer Erkrankung bei Verwandten in Basel Erholung. Von da aus soll er am nahen Goetheanum in Dornach "Anthroposophie studiert" haben. Sein Biograph Ulrich Weber, der ihn "anekdotenfreudig" nennt, findet in Berls Schrift "Kosmische Wanderung" (1921) Einfüsse Rudolf Steiners und Alfred Momberts.1

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Berl wegen seiner Ehe mit einer Jüdin als politisch unbelastet eingestuft und in eine Kommission berufen, die das Kulturleben in der französischen Besatzungszone reorganisieren sollte. Er hat 1947 in Karlsruhe den "Verband südwestdeutscher Autoren" mitgegründet. Am Karfreitag 1953 erlag Berl einem Krebsleiden. 1946 waren seine "Gespräche mit berühmten Zeitgenossen" erschienen, ein Buch, das u.a. Gespräche mit Gerhart Hauptmann, Thomas Mann, C.G. Jung, Henri Bergson enthält. Das Kapitel über Rudolf Steiner trägt den Titel "Das Goetheanum ohne Goethe". Der Dichter Otto Flake (1880-1963) nannte Berls Buch "eine reichlich naive Arbeit".2

Das Buch hat keine Neuauflage mehr erfahren. Schon der Titel ist irreführend: In kaum einer der 25 Begegnungen fand ein wirkliches Gespräch statt: Berl kokettiert offensichtlich mit den Prominenten, denen er sich nähern konnte. Schon in seinem ersten Kapitel mit der Überschrift "Begegnung mit Nietzsche", beschreibt er in sentimentaler Weise, wie er einmal in Weimar von Nietzsches Schwester durch die "Villa Silberblick" geführt wurde. Er habe dabei "ein unbeschreibliches Gefühl der Beglückung" empfunden (S. 13). Was ihn nach Dornach führte, bleibt rätselhaft. Angesichts der vielen Irrtümer und Gerüchte in seinem Kapitel über Steiner kann man vermuten, dass er von damaligen Anthroposophie-Gegnern beeinflusst war.3

Der "Augenzeuge" Heinrich Berl über seinen Besuch in Dornach

"Eines Tages nach dem Weltkrieg wanderte ich von Basel nach Dornach. Unterwegs erzählte man mir allerlei mysteriöse Dinge von Rudolf Steiner und seiner Sekte. Vor allem sollten die Anthroposophen, wie die Mormonen, Bigamie und Polygamie haben, was mir zwar im Grunde gleichgültig war, was sich aber doch als typisch erwies für die aufgescheuchte Phantasie der Umgebung.

Damals stand noch der alte Bau aus Holz, das, dank der reichen Zuwendungen aus Amerika, teilweise aus Indien direkt importiert war. Dieses geduckte wilde Tier mit seinen glotzenden Augen wurde langsam zahmer, je näher ich kam, und zum Schluss entpuppte es sich als das plumpeste architektonische Machwerk, das mir je begegnet ist. Ein 'Jugendstil' ohne Jugend! 
Dieser Hügel mit seinem monströsen Bau erinnerte mich irgendwie an Bayreuth – ein Vergleich, der sich bald noch aus einem anderen Grunde als richtig erweisen sollte!

Ich aber neigte dazu anzunehmen, dass der Brand die gerechte Strafe für die Sünde am heiligen Geist Goethes gewesen sei."

Ich sah junge Frauen mit hohlen Wangen und Augen, die denen des glotzenden Ungeheuers ähnlich waren, geschäftig hin- und hereilen. Sie hatten in der nahen Baracke zu tun, denn ihr Herr und Meister sollte in etwa einer Stunde darin sprechen. Es dauerte nicht lange, da sprach mich ein ebenso junger Mann mit dunklen Haaren an, der am Bau beschäftigt war. Er war natürlich Steinerianer, denn nur ein solcher durfte überhaupt das Heiligtum berühren. Er bot sich mir in liebenswürdiger Weise als Begleiter an. Gleich bei der Treppe begann die Symbolik.

"Hier hat Steiner die Vision des inneren Ohres gehabt", sagte er mir.
Ich blickte abwechselnd das seltsame Missgebilde und das Gesicht des Begleiters an.
"Das ist so zu verstehen", fuhr er fort, "wenn wir die Treppe emporsteigen, können wir dies nur dank des Gleichgewichtssinnes, der bekanntlich im Ohr sitzt. Diesen Gleichgewichtssinn hat Steiner in seiner Urgestalt geschaut."
Ich verstand: es war eine Art Gehörgang in plump materialistischer Wiedergabe. Von Vision keine Spur.

Der Hauptraum war amphitheatralisch angelegt, mit Säulen aus echten indischen Hölzern und farbigen Fenstern, die in primitivster Weise bemalt waren mit Szenen aus Mythologie und Geschichte. 

"Hier hat Steiner die Vision des Teufels gehabt", erklärte der Adept eines der Fenster.
"Der Teufel soll sie holen", dachte ich bei mir.
"Hier hat Steiner selbst die Deckengewölbe entworfen und ausgeführt", sagte er in die Höhe deutend.
"Ah", entfuhr es mir, "Steiner kann auch malen?"
"Gewiss, Steiner kann alles. Er hat auch die Mysterien selbst gedichtet, die einmal auf der Bühne dort aufgeführt werden, wenn sie fertig ist."
"Und die Musik, die sicher dazu gespielt wird?"
"Sie wird nach Klangvisionen von Steiner komponiert werden."

Ich war erschüttert…Hier hat Steiner…Steiner kann alles…hörte ich dauernd. Der Vergleich mit Bayreuth ging mir wieder durch den Kopf. Es war eine Art 'Gesamtkunstwerk' mit den Mitteln der Mystagogie.
Dabei gab Steiner dem Bau den Namen 'Goetheanum'. Das war mehr als Missbrauch — das war eine Schändung Goethes! Wieviel Mal mag sich dabei Goethe schon im Grabe herumgedreht haben?

Nach der Besichtigung war es Zeit, die Baracke aufzusuchen. Bald erschien Steiner am Katheder. Er trug einen schwarzen Schlips, der gemeinsam mit dem dunkeln Haar das blasse Gesicht beinahe maskenhaft kontrastierte. Die Stimme war anfänglich dumpf, steigerte sich aber mit der Zeit zu einem grellen Pathos.
Ich wüsste nicht, was mir von dem Inhalt der Rede hätte bleiben sollen als der Eindruck eines fanatischen, vollkommen mittelmäßigen, rabiat gewordenen Scharlatans. Nach der Veranstaltung ging ich mit meinem neu gewonnenen Freund hinaus. Bald stand Steiner in der Nähe und beobachtete uns.

"Soll ich Sie vorstellen ?" fragte mich der Adept.
Ich bejahte es mechanisch, ohne es eigentlich zu wollen.
Ich knüpfte an das Thema der Intuition an und fragte Steiner, welcher grundlegende Unterschied zwischen der Intuition Bergsons und der seinigen bestehe.
"Die Intuition Bergsons ist leer", entgegnete er etwas unwillig über die neugierige Frage. "Wie wollen Sie zum Beispiel mit ihr den Erzengel Gabriel schauen?"
"Den will ich allerdings nicht schauen", wagte ich zu entgegnen.

Damit war das Gespräch natürlich rasch beendigt. Wie sollte der Meister mit einem jungen Mann sich lange abgeben, der seinem Alter nach sein Schüler sein konnte? Ich habe mich später noch manchmal mit meinem Freund getroffen. Wir gingen gewöhnlich auf die nahe Burg und ich setzte ihm meine Zweifel in die Lehre Steiners auseinander. 

"Wissen Sie, dass ich Steiner oft mit Wagner vergleiche?" sagte ich einmal zu ihm.
"Wieso mit Wagner? Wie meinen Sie das?"
"Nun", erwiderte ich, "bei Wagner ist der gleiche Dilettantismus des 'Gesamtkunstwerks' und die gleiche 'Tyrannis' gegenüber seinen Anhängern.
"Halten Sie Steiner für einen Tyrannen?" fragte er erstaunt.
"Gewiss halte ich ihn dafür. Lässt er denn eine andere Meinung gelten als die seine? Kann man mit ihm überhaupt ein Gespräch führen? Das ist auch psychologisch gar nicht möglich. Eine Lehre, die mit dem Anspruch des Absoluten auftritt, duldet nur kritiklos gläubige Kreaturen. Mir ist diese Art geistige Haltung in der Seele zuwider. Sie ist für blinde Massen, aber nicht für denkende Menschen."
"Einen Zweifel in seine Lehre duldet er allerdings nicht."
"Sehen Sie! Aber ich zweifle nicht nur an dem Wert seiner sogenannten 'Visionen', ich zweifle auch daran, dass, wie er behauptet, jedermann das Organ für die Geheimwissenschaft in sich ausbilden könne. Geheimes Wissen ist für wenige, nicht für viele, am allerwenigsten für alle."

Mit jedem Gespräch fühlte ich, wie der Zweifel in der Seele des Adepten zu fressen begann. Er war von Beruf Architekt und als solcher am Bau beschäftigt. Sicher war sein Stilgefühl und sein Verantwortungsbewusstsein grösser, als es im ersten Augenblick geschienen hatte.
Ich ging wieder von Basel fort und wir verloren uns aus den Augen. Eine seiner Karten fand ich noch unter meiner Korrespondenz.

Nach einem guten Jahrzehnt kam ich wieder einmal von Basel aus nach Dornach. Inwischen war der Holzbau abgebrannt und die Vision hatte Steiner eingegeben, dass ein Betonbau gegen Feuer auf jeden Fall sicher sei. Wie erstaunte ich, als ich hörte, dass der mutmassliche Brandstifter jener junge Architekt gewesen sei, denn er habe sich einschliessen lassen und sei als verkohlte Leiche unter den Trümmern hervorgezogen worden.

Ich aber neigte dazu anzunehmen, dass der Brand die gerechte Strafe für die Sünde am heiligen Geist Goethes gewesen sei."


Anmerkungen:

[Heinrich Berl, Gespräche mit berühmten Zeitgenossen. Baden-Baden: Verlag Hans Bühler jr.,mit Genehmigung der franz. Militärregierung, 1946]

1 Ulrich Weber: Heinrich Berl, in: Badische Biographien, Neue Folge, vol. 1, Stuttgart 1982, S. 44-46.2 Otto Flake, Es wird Abend. Bericht aus einem langen Leben. Frankfurt am Main: Fischer 1980, S. 524
3 Das noch ungedruckte Manuskript von 80 weiteren „Gesprächen mit berühmten Zeitgenossen“ und eine Autographensamlung von Prominenten befindet sich in Berls Nachlass in der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe und im Archiv der Stadt Baden-Baden.

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