Anthroposophie vs. Demokratie?

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Die Bundeszentrale für politische Bildung veranstaltete am 5./6. September 2022 in Fulda eine Fachtagung, bei der Experten über "Esoterik und Demokratie – ein Spannungsverhältnis" diskutierten. Wolfgang G. Voegele hat sich die Dokumentation, die inzwischen zu weiten Teilen auf der Internetseite der Bundeszentrale veröffentlich wurde, für uns angesehen und widmet sich in diesem Beitrag schwerpunktmäßig dem Bereich Anthroposophie, der durch Laura Krautkrämer, Redakteurin der Zeitschrift Info3 sowie durch Ansgar Martins, einem zum Anthroposophie-Kritiker avancierten ehemaligen Waldorfschüler, vertreten wurde. 

Wolfgang G. Voegele

Seit 2020 steht in Deutschland eine diffuse Gruppierung im Fokus der Medien: die so genannten "Esoteriker". Früher als Spinner belächelt, gefährden sie nun angeblich unsere Demokratie, weil ihre Ansichten in weiten Teilen mit Rechtsextremismus kompatibel sein sollen. Das behaupteten nicht wenige der Experten, die auf dieser Fachtagung auftraten.
Zu den Referenten gehörten u.a. der Religionswissenschaftler Wouter Hanegraaff, der Landeskirchliche Beauftragte für Sekten- und Weltanschauungsfragen, Matthias Pöhlmann, die Esoterikforscher Julian Strube (Wien) und Aaron French (Erfurt), der Theologe Kai Funkschmidt und die als Homöopathiegegnerin bekannte Ärztin Natalie Grams.
In seinen Begrüßungsworten sagte der Präsident der Bundeszentrale, Thomas Krüger , Esoterik sei zwar Privatsache und gehöre eigentlich nicht zum Thema seines Hauses, aber sie habe in den letzten zweieinhalb Jahren erhöhte politische Relevanz erlangt [1]. Geheimwissen, so Krüger, sei "der perfekte Nährboden für autoritäres Denken". Ihm falle zum Begriff Esoterik u.a. Uri Geller, Okkultismus und Anthroposophie ein. 

Hanegraafs Einführungsvortrag

Der renommierte Esoterikforscher Wouter Hanegraaff (Amsterdam) gab zu Beginn einen Überblick über die Geschichte der Esoterik. Seine Feststellung, dass es in der Wissenschaft keine verbindliche Definition dieses Begriffs gebe, dürfte viele Teilnehmer enttäuscht haben. 

Hangegraaff vertritt die These, dass es sich bei der Esoterik um "rejected knowledge" (verworfenes Wissen) handele, das jahrhundertelang von den hegemonialen Instanzen (Kirche und Universität) ausgegrenzt und diffamiert worden sei. 
Den heutigen Esoterikboom führt er auf ein Versagen unserer westlichen, neoliberalen Welt zurück, in der weder die Wissenschaft noch die Kirchen eine befriedigende Antwort auf die "letzten Fragen" (Tod, Unsterblichkeit, Sinn des Lebens) geben könnten. Diese Antworten würden aber in der vielfältigen Welt der Esoterik gegeben. Die verbreitete Meinung, Esoterik gefährde die Demokratie, teilt Hanegraaff nicht. Nur eine Minderheit der "Esoteriker" sei demokratiefeindlich. 

Im Gegensatz zu Hanegraaff hielten die meisten Referenten der Tagung, besonders die Theologen, jede Art von Esoterik für gesellschaftlich gefährlich. Damit bestätigten sie indirekt Hanegraaffs These von der Ausgrenzung des geheimen Wissens, die bis heute andauert. Sie begnügt sich nicht mit dem Vorwurf der Irrationalität, sondern suggeriert Staatsgefährlichkeit. 

[Anm. der Redaktion] Eine weltanschauliche Ausgrenzung kann auch im Gewand der Satire daherkommen, wie die am 18.11.22 stattgefundene Medienkampagne gegen Anthroposophie, die von der Redaktion der anthroposophischen Monatszeitschrift Info3 als "Konzertierte Aktion gegen Rudolf Steiner und die Waldorfpädagogik" bezeichnet wurde.

Thema Anthroposophie

Unter den parallel stattfindenden vertiefenden Gruppen gab es auch einen zweistündigen Beitrag zum Thema "Anthroposophie – Wellness-Philosophie, gefährliche Sekte oder sinnvolle Antwort auf die rastlose Moderne?" Dazu referierten zwei ehemalige Waldorfschüler, der Religionswissenschaftler Ansgar Martins und die Redakteurin des Magazins Info3, Laura Krautkrämer. Moderatorin war Ulrike Schnellbach. [Anm. Schnellbach publizierte einen eigenen Tagungsbericht in der Wochenzeitung "Kontext", 598, 14.9.22].

Laura Krautkrämer wies darauf hin, dass Helmut Zanders Schlagwort von der Anthroposophie als "esoterische Großmacht" irreführend sei, denn es gebe keine Weltzentrale mit Machtstrukturen. Die Größe der anthroposophischen Bewegung sei überschaubar und während die Anthroposophische Gesellschaft sogar einen Mitgliederschwund verzeichne, sei der Sympathisantenkreis weit größer. Anthroposophen betrieben keine Weltflucht-Esoterik, sie habe eine stark sichtbare Außenseite, die auch viele Klischees hervorrufe, z. B. das immer wieder genannte "Namen tanzen". Es gebe auch nicht "die Anthroposophen", da es sich um eine extrem diverse Bewegung handle. Ein großer Teil der "Nutzer" habe kaum Interesse am theoretischen Hintergrund ("… den ich aber nicht kleinreden will"). Die Anthroposophie habe zur Zeit eher den Nimbus eines Störfaktors: sie werde als irrational und undemokratisch bezeichnet.

Die anschließende Diskussion, in die auch das Publikum einbezogen wurde, befasste sich etwa mit der Frage, ob die Anthroposophie eine Sekte sei, auch wurde nach rechten Positionen gefragt, nach Rassismus und "Querdenken" und nach dem "Etikettenschwindel" der Waldorfschulen, die interessierte Eltern angeblich über die ideologischen Hintergründe im Unklaren lassen. 

Der Sektenvorwurf wurde von Martins zurückgewiesen: Anthroposophie gehöre eher auf die Seite der Kirche, nicht der Sekte, weil sich Sekten um Charismatiker gruppieren (was vor 1919 auch in der Anthroposophischen Gesellschaft der Fall gewesen sei, die heute ein bürokratischer Apparat sei). Sie sei eher Religion (worunter Martins auch Esoterik subsummiert). Laura Krautkrämer präzisierte: Anthroposophie sei eine weltanschauliche Bewegung, deren Kern auch religiös sei. 

Fragen / Antworten

Die Fragen aus dem Publikum dürften teilweise den kritischen Medienberichten über die Anthroposophie geschuldet sein. So wurde nach der "Gefahr für unsere Demokratie" gefragt, aber auch: Worin liegen die positiven Elemente die Anthroposophie? 

Laura Krautkrämer wies darauf hin, dass sich die Verbände eindeutig von rechten Tendenzen positioniert und abgegrenzt haben und verwies auch auf Ansgar Martins Buch über Rassismus. Positiv sei zu vermerken das hohe Potential, speziell auch im Hinblick auf Ökologie und Medizin, sowie das starke Engagement der in diesen Bereichen tätigen Menschen.  

Ansgar Martins merkte an, dass es viele "Fraktionen" innerhalb der anthroposophischen Bewegung gebe, darunter auch skurrile "YouTuber" mit großer Reichweite. Er selbst tue sich schwer mit angeblichen "Gefahren", problematisch sei allerdings auch die Schwerfälligkeit von Institutionen. Die Frage nach Rassismus in der Anthroposophie beantwortete er damit, dass Rassismus zumeist nur als NS-Rassismus verstanden würde, aber zum Beispiel in Südafrika herrsche gegenüber den Dunkelhäutigen ein "liebevoller Paternalismus". 

Es schloss sich die Frage an, ob die Anthroposophie eine Philosophie der Ungleichheit mit menschenfreundlichem Kern sei?
Laura Krautkrämer dazu: Sie sei zwar keine "Anthroposophiegläubige", habe aber fruchtbare Anregungen erhalten. Auch sei sie nicht auf dem esoterischen Schulungsweg unterwegs und Rudolf Steiner sei nicht der "Guru" ihres Lebens. Mit dieser Ansicht dürfte sie wohl bei vielen Anthroposophie- und Waldorf-Anhängern auf große Zustimmung stoßen. 

Auf die Frage: Welche Bedürfnisse die Anthroposophie für viele Menschen befriedige, antwortete Martins, dass die "geistige Welt" als Hintergrund ein metaphysisches Grundbedürfnis erfülle und ein Sinn-Angebot erfülle ("Ich bin auf der guten Seite"). Der (übende) Kern sähe es noch ernster. Soziologisch sei Esoterik kein Glaube (Credo), sondern eher eine gesellschaftliche Bewegung (im 19. Jahrhundert die Theosophische Gesellschaft).
Es werde in der Anthroposophie eine unglaubliche Menge Literatur produziert, es handele sich um eine lesende, schreibende und denkende Bewegung. Die 400 Bände der Steiner- Gesamtausgabe werde von vielen studiert und interpretiert. Deshalb sei die Anthroposophie auch als eine "Intellektuellen-Religion" bezeichnet worden. 
Die Frage "Pseudowissenschaft" sei irrelevant gegenüber der Tatsache, dass Anthroposophie eine sehr erfolgreiche "Imitation von Wissenschaft" sei. Anthroposophie, so Martins, sehe sich durchaus im Mainstream, nämlich als als Vollendung abendländischen Denkens, und nicht als "rejected knowledge". Steiner verstehe seine Esoterik (Schulung) als demokratisch für alle verfügbar, im Gegensatz zur aristokratischen Schulung in der Antike (strenge Geheimhaltung). Allerdings nur auf dem Steinerschen Weg.

Darin liegt der Evolutionsgedanke. Das Individuum soll sich heute selbst lenken. Steiners Evolution folge Ernst Haeckel. Das spiegele sich auch im Lehrplan der Waldorfschule (Kulturepochen). Daher der Rassismusvorwurf. 

Atlantis?

Nicht in allen Waldorfschulen werde Atlantis im Geschichtsunterricht erwähnt. Krautkrämer versicherte, der starke Eurozentrismus der Anthroposophie spiele in der Waldorfschule keine Rolle. Der Charme dieser Schule liege in ihrer Ganzheitlichkeit.

Ein Geschichtslehrer wendet ein, Martins‘ Äußerungen seien eine undifferenzierte Engführung, ein Zerrbild. Umstrittene Sekundärliteratur wie Grosse, von Gleich, Heyer spielten in der Waldorf-Lehrerbildung und erst recht im Unterricht, außer in Einzelfällen keine Rolle. 

Dazu Martins: Die Pädagogische Forschungsstelle habe zu spät auf Vorwürfe reagiert. Das Buch von Michael Zech (Prof. der Alanus Hochschule) sei zu wenig. Im Unterricht werde der Nationalsozialismus nicht behandelt. In der Waldorfpraxis herrsche "viel Wildwuchs", bei der der Steinerbezug sehr unklar sei. Es gäbe eine Art sekundäre Anthroposophie; die vorgefundene Theorie sei der Praxis "angewachsen". Aber Waldorfschulen seien nicht trotz, sondern wegen der Anthroposophie so erfolgreich. 

Dass Steiner den Religionsunterricht den verschiedenen Konfessionen überließ, zeige, dass er die WS nicht als einseitige "Religionsschule" (Weltanschauungsschule) verstand. In Israel bestünden orthodoxe Waldorfschulen.

Auf die Anmerkung aus dem Publikum, dass es von Bader/Ravagli eine Verteidigungsschrift gegen den Rassismusvorwurf gäbe, in der Steiners Rassismus relativiert werde, antwortete Laura Krautkrämer, dass die Ravagli-Schrift in der Tat schmerzhaft. sei. Dort werde der Eurozentrismus verteidigt. Dieser spiele aber In der Waldorfpraxis keine Rolle.
Dass Esoterik zur Antidemokratie führe, sei zwar in manchen Fällen richtig, aber eine extrem verengte Behauptung. Wie Hanegraaff zeigte, muss man die Inhalte der Box "Esoterik" genau unterscheiden. Angesichts der derzeitigen Krisen sollte man viel eher auf die konstruktiven gesellschaftlichen Beiträge der Praktiker sehen, auf die unsere Demokratie nicht verzichten könne. Leider bestehe in den (sozialen) Medien ein unfairer Diskurs: Während dort Offenheit für "andere Weltbilder", z.B. indigene Kulturen, herrsche, erfolge im Fall der Anthroposophie Häme über den Demeterbauern, der sein Kuhhorn vergräbt. 

Auf die Frage "Wie können Sie als "Teil" des Info3-Magazins Kritik üben?" antwortete Laura Krautkrämer, es gebe den Raum für interne Kritik, weil Anthroposophie kein hermetisches Denkgebäude sei. Die Waldorfschule sei sicher teilweise reformbedürftig.

Ein Teilnehmer aus dem Publikum merkte an, dass er es aufrichtiger fände, wenn sich die Waldorfschulen eher als konfessionelle Schulen begreifen würden. Er habe immer den Eindruck des Etikettenschwindels, weil Eltern nicht über den ideologischen Hintergrund aufgeklärt werden, obwohl selbst die Farben an den Wänden der Klassenzimmer ideologische Ursachen haben. Dann hätten die Eltern eine Vorwarn-Zeit.

Ansgar Martins Antwort darauf: Eine Religion zu sein widerspreche dem anthroposophischen Selbstverständnis. Etikettenschwindel sei ein merkwürdiger Vorwurf, denn Eltern könnten sich schon bei Wikipedia informieren, dass Esoterik dahintersteht. Dennoch scheint die Waldorfschule von ihren Stärken zu leben. Gefragt werden sollte: Warum funktioniert sie so gut? Warum macht sie so viele Leute glücklich?

Am Schluss dieser Abteilung gestand die Moderatorin: Ich gehe mit mehr Fragen als Antworten weg.

foto: screenshot webseite bpb

Videomitschnitte der Vorträge, Diskussionen und Vertiefungsangebote wurden Anfang Oktober online gestellt:

www.bpb.de/themen/rechtsextremismus/513544/esoterik-und-demokratie-ein-spannungsverhaeltnis/

Anmerkung

[1] Der Vorsitzende des Kuratoriums der BPB, Thorsten Frei, damals stellvertretender Vorsitzender der CDU-Bundestagsfraktion, meinte, eine Relativierung des Linksextremismus sei im Sinne der politischen Bildung inakzeptabel.
www.pro-medienmagazin.de/bpb-kuratorium-stellt-sich-gegen-praesident-krueger
Auch die NZZ bezweifelte die politische "Unabhängigkeit" der Bundeszentrale. (Anna Schneider, Redakteurin im Berliner Büro der NZZ, resümierte: "Die ideologische Schieflage der Bundeszentrale ist evident. Der Stellenausbau mit dem einseitigen Fokus auf den ‚Kampf gegen rechts‘ dürfte kaum für mehr Ausgewogenheit sorgen." 
www.nzz.ch/international/bundeszentrale-fuer-politische-bildung-in-ideologischer-schieflage-ld.1599958
"Unabhängigkeit bedroht" titelte die grün-links orientierte taz in einem Artikel vom 5.8.2021. Sie bedauerte, dass die Bundeszentrale sei der "politisch motivierten" staatlichen Intervention des Bundesministeriums des Innern unterworfen sei.
taz.de/Bundeszentrale-fuer-politische-Bildung/!5750736/
Auch die "Frankfurter Rundschau" forderte am 22.2.2021 die Unabhängigkeit der Zentrale vom Innenministerium. 

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