Spurensuche II.

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Ein vergessenes Interview

von Wolfgang G. Voegele

Zu den größten äußeren Erfolgen der anthroposophischen Bewegung gehörte der zu Pfingsten 1922 in Wien abgehaltene „West-Ost-Kongress“. Er wurde fast täglich von den großen Tageszeitungen kommentiert und war sozusagen Stadtgespräch. Rudolf Steiner gab damals auch einige Interviews, von denen eines (mit dem „neuen Wiener Tagblatt“) in dem Sammelband "Der andere Rudolf Steiner“ abgedruckt ist. Ganz vergessen ist dagegen ein Gespräch, das damals ein junger, aus Ungarn stammender Journalist mit Steiner führte. Desiderius Papp (1895-1993) war auch Buchautor und hat zahlreiche Prominente interviewt. 1938 floh er vor den Nazimachthabern zunächst in die Schweiz, dann nach Frankreich, Argentinien und andere südamerikanische Staaten, wo er Lehrstühle für Wissenschaftsgeschichte leitete. Seine Artikel beschäftigen sich auffallend häufig mit kosmischen und futurologischen Themen: Weltraumfahrt, Leben auf fernen Planeten, aber auch mit Psychologie und spirituellen Wegen. Ein großes Rätsel war ihm auch der Zusammenhang von Erotik und Spiritualität. 1929 gab er vorübergehend ein eigenes Erotikmagazin („Die Schlange“) heraus.

Der nachfolgende Text von Desiderius Papp unter dem Titel: "Bei Rudolf Steiner", wurde am Freitag, den 2. Juni 1922 in der Zeitung "Neues Wiener Journal" abgedruckt:

Bei Rudolf Steiner

"Man braucht kein Anthroposoph zu sein, um in Rudolf Steiner den ungewöhnlichen Menschen zu erraten. Sein durchgeistigtes Gesicht, sein unheimlich scharfer Blick läßt einen großen Kampf mit großen Problemen ahnen. Sein Äußeres ließe in ihm eher einen Schauspieler oder einen Geistlichen denn einen Philosophen vermuten.

Es ist keine leichte Aufgabe, beantwortet er meine Frage, das Wesen der Anthroposophie in einigen Sätzen zusammenzufassen. Denn in ihr laufen die Fäden der verschiedensten geistigen Probleme zusammen, und sie durchdringt befruchtend und belebend fast jeden Zweig des menschlichen Geisteslebens. Immerhin ließe sie sich in ihrem wesentlichsten Inhalt als eine Bestrebung bezeichnen, die mit der vollen Bejahung, ja mit der Verwendung der Resultate der exakten Naturwissenschaften eine religiöse Weltanschauung dem modernen Menschen schenken will. Anthroposophie ist also Wissenschaft und Religion zugleich. Sie ist Wissenschaft, weil sie mit exakten Methoden arbeitet, und dennoch ist sie Religion, nicht nur weil sie Weltanschauung gibt, sondern weil sie sich nicht lehren läßt. Sie muß innerlich erlebt werden. Wem die Anthroposophie nicht zu einem persönlichsten Erlebnis geworden ist, dem werden sich ihre großen Wahrheiten nie offenbaren. Die anthroposophische Lehre geht von der Erkenntnis aus, daß ein unmittelbares Schauen der übersinnlichen Welt möglich ist. Die Mittel dazu sind in unserem Bewußtsein gegeben, dessen schlummernde Kräfte geweckt und – bildlich gesprochen – zu einem metaphysischen Organ gesteigert werden können. Dem Anthroposophen ist die Möglichkeit eines geistigen Schauens und eines geistigen Hörens gegeben.

Das intuitive Schauen hat seine Wunder bei manchen Geistesgrößen der Vergangenheit, vor allem in Goethes Werden und Wirken geoffenbart. Nach der anthroposophischen Lehre ist aber dieses geistige Schauen nicht mehr das Privilegium der Auserwählten, jeder Mensch, der von vornherein die übersinnliche Welt nicht ablehnt, kann es erlangen. 

Freilich ist die metaphysische Erkenntnis nur ein Gesicht der anthroposophischen Lehre. Sie hat eine eigene schon ausgebaute Soziologie und eine Naturwissenschaft, die in Entfaltung begriffen ist. Die anthroposophische Soziologie verkündet die bekannte Dreigliederung des sozialen Organismus, die die Organe der Wirtschaft und des Geisteslebens aus dem an Hypertrophie erkrankten Staatsmechanismus herauslösen will. Die Wirtschaft soll im brüderlichen Bündnis der Konsumenten und Produzenten eine neue Grundlage erhalten und das Geistesleben – Universitäten und Schulen – soll von der lästigen und entwürdigenden Bevormundung des juristischen Staates befreit werden. Es ist unsere tiefe Überzeugung, daß eine derartige Reform des Staatswesens das Elend auf Erden vermindern und den Fortschritt der Menschheit verbürgen würde. Wir sind auch überzeugt, daß eine Reform in diesem Sinne sich unbedingt vollziehen wird, wenn nicht Vernunftgründe, so wird die eiserne Notwendigkeit das Reich der Dreigliederung herbeiführen. Im großen Kriege haben die Staaten, wenn auch unbewußt, wirtschaftliche Maßnahmen eingeführt, die entfernt an die Dreigliederung erinnern. Damals waren wir der Ansicht, daß sie höchstens drei Jahrzehnte auf sich warten lassen wird, jetzt scheint aber der Zeitpunkt der großen Umgestaltung ferner gerückt zu sein. Die anthroposophische Wissenschaft sucht durch das geistige Schauen mit Wahrung der exakten Wissenschaften Resultate auf das Gebiet der Naturwissenschaft zu übertragen. Was die Anthroposophie auf diesem Gebiet vermag, zeigen die schönen Erfolge anthroposophischer Diagnostik und Therapie, die in Stuttgart von hervorragenden ärztlichen Fachleuten erzielt werden.

Sie wollen etwas über das Verhältnis der Anthroposophie zum Christentum und Buddhismus erfahren?  Die Anthroposophie lehnt das biblische Christentum nicht ab. Sie glaubt im Gegenteil gewissermaßen sein Erbe zu sein. Die Mysterien sind für uns Halbwahrheiten. In jedem Mysterium steckt eine geistig geschaute Wahrheit. Diese Wahrheit ist aber von der Kirche nicht erkannt worden und läßt sich nur mit dem gesteigerten Gefühlsbewußtsein des Anthroposophen erkennen. Freilich hat die Anthroposophie mit der klerikalen Kirche nichts zu tun und sie wurde von ihr stets auf das schärfste bekämpft. Mit dem Buddhismus hat die Anthroposophie nichts Bedeutendes gemein, obgleich sich in der anthroposophischen Seelenkunde Anklänge an den buddhistischen Kreislauf der Wiedergeburten finden. Die Unsterblichkeitslehre der Religionen ist einseitig. Sie untersucht nur das Schicksal unserer geistigen Wesenheit nach dem Tode und vergißt auf sie vor der Geburt. Die Vorexistenz der Seele ist ebenso wichtig als die Nachexistenz.

Wie ich über Spenglers Lehre vom Untergang des Abendlandes denke? Diese Frage wird oft an mich gerichtet. Ich glaube, der Untergang des Abendlandes ist kein Problem der Wissenschaft, wohl aber das der Willenschaft. Wenn sich in der allernächsten Zeit einige Dutzend Männer finden werden, die die richtige Erkenntnis der trostlosen Lage Europas mit tatkräftiger Energie verbinden, so ist dieser Untergang hintanzuhalten. Wenn aber Konferenzen nur dazu da sind, um Zeit und Ort neuer Konferenzen anzuberaumen, so wird sich Europas Schicksal im Sinne der Spenglerschen Lehre erfüllen."

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