Kunst und Spiritualität bei Joseph Beuys

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Zeige Deine Wunde

Eine Spurensuche von Rüdiger Sünner. Im Beuys-Jubiläumsjahr 2021 erschien eine aktuelle Ausgabe des Buches "Zeige Deine Wunde". Für uns Grund genug, noch einmal auf Rüdiger Sünners Film über Josef Beuys hinzuweisen, der 2015 nahezu zeitgleich mit der ersten Ausgabe des Buches erschienen war. Eine Besprechung von Michael Mentzel

redaktion/tdz.- Ist nicht schon alles gesagt? Hat nicht der Spiegel 1984 ein großes Interview mit Josef Beuys geführt, von dem insbesondere dem anthroposophischen Publikum der Satz von den Mysterien, die am Hauptbahnhof stattfinden, im Gedächtnis geblieben ist? Hat nicht der Beuys-Biograf Riegel (neben anderen) mit kaltem und sezierendem Blick auf zweifellos auch vorhandende Unstimmigkeiten und Ungereimtheiten im Leben von Josef Beuys hingewiesen? Haben im Anschluss an diese Biographie nicht unzählige Beuys-Kenner und Weggefährten diesem schiefen Bild vom "Scharlatan" und "Lügner" Beuys in vielen Aufsätzen und Entgegnungen einen gänzlich anderen Blick auf Josef Beuys entgegengesetzt? 

Jetzt also noch ein Film über Josef Beuys. Sehen wir uns einmal an, wie Rüdiger Sünner mit Josef Beuys in seinem Film "Zeige Deine Wunde" mit dem Thema umgegangen ist. Sünner lässt sich Zeit, schnelle und hektische Bildwechsel – man weiß es aus zahlreichen anderen Filmen – sind seine Sache nicht. Es geht ihm in diesem Film um die Entwicklung der künstlerischen Biographie und um die persönliche Begegnung des Film-Autors mit dem Gegenstand seiner Betrachtung. Für den ambitionierten Filmemacher auch eine gelungene Gelegenheit, den Flugzeugabsturz und die von Beuys erzählte Geschichte seiner Begegnung mit den Krim-Tataren und seiner Rettung ohne die inzwischen allgemein übliche hämische und investigativ gemurmelte Begleitmusik sachlich und neutral darzustellen. 
Als Rüdiger Sünner dem Werk von Beuys das erste Mal begegnet, ist er beeindruckt: "Ich hatte eine neue Art von Kunst erlebt. Rätselhaft, irritierend, aber auch aufregend in ihrer dunklen Schönheit." Er beschreibt den Künstler Beuys als "Poet", der heilend auf ihn gewirkt habe. 

Sünner geht die verschiedenen Stationen in Beuys Leben noch einmal ab, lässt Mitarbeiter, Freunde, Weggefährten und natürlich Beuys selbst – in Zitaten und Filmausschnitten – zu Wort kommen und schafft so verbindende Elemente der verschiedenen Schaffensperioden. Dabei unterstreicht er den gesprochenen Text und Zitate mit ruhigen und ansprechenden Bildsequenzen und schafft so den nötigen Raum für den Betrachter, das Gesagte nachklingen zu lassen. Was Beuys (die Zitate werden gesprochen von Hans Peter Bögel) über seine Kinder- und Jugendzeit erzählt, über die starke Hinwendung zur Natur und zu den – auch alltäglichen – Dingen, die uns umgeben, lässt erahnen, was später in den vielen Werken und Installationen bis hin zu bekenntnishaften Demonstrationen wieder auftaucht. 

Kaum etwas scheint es zu geben, an dem Beuys achtlos vorübergeht. Alles ist ihm wichtig. Es sind – im wahrsten Sinne des Wortes tiefe Eindrücke, die sich Beuys Leben und seinem Schaffen eingeprägt haben. Ein der Welt gegenüber offenes Wesen macht verletzlich, angreifbar. Als dünnhäutig und durchlässig charakterisiert ihn eine Mitarbeiterin, die Kunsthistorikerin Rea Thönges-Stringaris. Da sei keine Grenze gewesen, wo er sich hätte wehren können. Aber: "Er hatte diese ungeheure Kraft, dagegen zu arbeiten (..) und zu merken, jetzt muss ich hinaus mit einer Botschaft, die hat nicht nur mit mir, sondern die hat mit der Kunst zu tun und es hat mit dem Weltzustand zu tun." 
Die Tochter seines Lehrers Ewald Mataré zeigt sich tief beeindruckt von Beuys Umgang mit den Pflanzen und der Natur. "Das sagte soviel aus über seine Haltung zur Natur." 

Bei Ewald Mataré, dessen Student Beuys in der Bildhauerklasse ist, lernt Beuys die Anthropsophie kennen und Volker Harlan beschreibt, wie intensiv er sich dem Werk Rudolf Steiners gewidmet und es so aufgenommen habe, dass klar wurde: "… dass es in ihm auf etwas traf, wo man sagen kann, ja, das ist es!" Vergleichen könne man das fast mit einem Biltzschlag. 

Beuys ist befreundet mit dem Bildhauer Günter Mancke, der in Weißenseifen in der Eifel eine anthroposophische Künstlersiedlung begründet. Dort besucht er den Freund, sie reden, hören zusammen Musik und diskutieren. Ihr Thema ist die Anthroposophie und das Schicksal der Kunst nach dem Krieg. (Wer diesen Ort Weißenseifen einmal eine Weile erlebt hat, die dort lebenden und arbeitenden Menschen und die Umgebung, wird wohl nachvollziehen können, dass sich Beuys dort wohlgefühlt haben muss.) Mit Mancke zusammen besucht Beuys das Goetheanum in Dornach. Eine Begegnung, die für ihn offensichtlich nichts allzu Erhebendes hat. 

Wolfgang Zumdick beschreibt es so, dass es nicht gelte, mit Steiner als Leitfigur zu arbeiten, sondern mit dem Erleben dessen, was durch Steiner vermittelt werde. Dies hätte Beuys sehr schnell festgestellt, "so dass er sich aus dieser anthroposophischen Ecke heraushalten musste." Der 1984 ausgesprochene Satz von Beuys, dass die Mysterien nicht in Dornach, sondern im "Hauptbahnhof" stattfänden, ist sicher auch vor diesem Hintergrund zu sehen und ist für Sünner an dieser Stelle des Films ein Anlass, "über die Bedeutung dieses Satzes" nachzudenken und über die Fragen des eigenen Seins und der eigenen Bedeutung in der Welt zu philosophieren: "Wie gehen wir mit dem Unerwarteten und Unberechenbaren um? Gibt es gute Geister, die uns durch Krisen und Notzeiten begleiten?" 

Der Kunstsammler Franz Joseph van der Grinten, bei dessen Familie Josef Beuys Mitte der fünfziger Jahre während einer tiefen existenziellen Krise unterkommt und sich, vom äußeren Leben weit entfernt, mit Todesgedanken plagt, erzählt, wie es gelang, Beuys wieder zum Zeichnen zu bringen. Sünner nennt diese Zeit eine Art Initiation. Es sind die Grenzerfahrungen, die Nähe zum Tod, die Beuys zum Erleben von Regeneration und Selbstheilung führen. Die Werke aus jener Zeit spiegeln jene Versuche, sich vermittels einer älteren Kultur, dem Zukünftigen zu nähern. Beuys: "Es ist ein tastender Anfang, auf den Menschen zu sprechen zu kommen, wie er in den verschiedenen Kulturen geistig lebt." 

Immer intensiver wird Beuys Werk durchdrungen von der Frage nach dem lebendigen Denken des Menschen, seiner Intellektualität und auch der dadurch bedingten Auseinandersetzung mit der Kunst. Zu erleben an der Aktion "Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt" oder an einem kurzen Ausschnitt aus einer Talkshow, in dem die innere Beziehung des Künstlers zu seinem Thema geradezu physisch zu spüren ist. In einer Kunstgalerie in New York findet die Aktion "I love America and America loves me" (Die Aktion mit dem Koyoten) statt. Auch hier wieder, wie so oft in seinem Werk, eine intensive Auseinandersetzung mit dem Thema Mensch und Natur.

In den folgenden Jahren wird der ökologische und gesellschaftpolitische Ansatz immer konkreter. 1973 gründet Beuys die FIU, die Freie Internationale Universität, in der interdisziplinär und vor allem im freien Austausch aller beteiligten Personen gearbeitet werden sollte; in der, so Rainer Rappmann vom FIU-Verlag in Wangen, in der Forschung "die Kunst implementiert sein sollte" und niemand nur – ausschließlich auf sich gestellt, "in seiner Sackgasse" gefangen sein sollte. 
Der Versuch, diese FIU in Düsseldorf zu etablieren, scheitert am Widerstand der politisch Zuständigen. Unter Freiheit der Lehre haben die Mächtigen schon immer etwas anderes verstanden als freie Lehrer; und auf diese Weise möchte man sich dann doch nicht in die Suppe spucken lassen. 

Die Schulen und Universitäten jener Zeit, resümiert Beuys, verhindern echte Kreativität: "Mit dem Fortschreiten der Bürokratie und der agressiven Verbreitung einer internationalen Massenkultur wird die Kreativität des Demokratischen immer mehr entmutigt." Die Folge einer solchermaßen korrumpierten Kreativität gebiert kriminelle Kreativität. Hoffnung werde als "Utopie" oder "Illusion" denunziert. Und: "Aufgegebene Hoffnung kreiert Gewalt". 
Die Installation "Zeige Deine Wunde" wird in dieser Zeit in einem großen leeren Betonraum unter der Münchener Maximilianstraße gezeigt. Die bedrückende, kalte und an Folterlager erinnernde Atmosphäre kennzeichnet die Diskrepanz zu den Schicki-Micki-Läden und Boutiquen der schon damals schillernden Einkaufsstrassen in der Münchener City. 
Es sind die Orte, die abseits der "normalen" Wahrnehmung existieren, die Beuys in jener Zeit interessieren, Orte, die man nicht gern aufsucht, weil sie kalt und unnahbar erscheinen, wie auch bei der Installation "Unschlitt" zu bemerken ist, die ihren Ursprung in einem verwahrlosten Schacht neben einer dunklen, ungeliebten Fußgängerunterführung auf dem Münsteraner Universitätsgelände hat. Im Atelier wird dieser Schacht nachgebaut, mit Stearin und Rindertalg gefüllt und nach Entfernen der Wände immer auf einer im Innern gleichbleibenden Temperatur gehalten. Es entstehen Wärmeblöcke und es ist – auch hier – das Element der Wärme, das Beuys Werk wie ein roter Faden durchzieht. 

Inspirationsorte sind für Beuys auch die Weiten der irischen und schottischen Landschaften. Hier sind es insbesondere die Mythen und die Reste einer spirituellen Kultur, denen sich Beuys – und wie unschwer zu bemerken ist, auch Sünner – verbunden fühlt. In der keltischen Kultur ist auch der Hintergrund für Beuys Hinwendung zur Eiche und zum Basalt zu suchen, Materialien, wie sie später in Kassel durch die Installationen zur Dokumenta mit den 7000 Eichen und den Basaltstelen ihren Widerhall finden. Denn nicht eine Rückbesinnung auf "irgendwelche Traditionen" wie sie beispielsweise durch die Eiche verkörpert werden, ist der Ansatz des Künstlers Beuys: "… wir wollen ja die neue Wärmezeitmaschine entwickeln, also etwas ganz anderes als die Betonung von irgendwelchen vergangenen Mystizismen eines mißverstandenen Deutschtums." 

"Zeige Deine Wunde" ist keine Dokumentation im landläufigen Sinne, es ist ein berührender Film über Kunst und Spiritualität und über einen leider viel zu früh verstorbenen "Gegenwartskünstler". Rüdiger Sünner lässt uns mit diesem Film teilhaben an seinem ganz speziellen Blick auf den Menschen Beuys. Auf einen schon früh anerkannten Künstler, der nicht den oft schon ausgetrampelten Pfaden einer auf Kommerz ausgerichteten "Kunstindustrie" gefolgt ist, sondern dem Betrachter des umfangreichen Werkes ermöglicht, mit den dargestellten Objekten, Installationen und gesellschaftspolitischen Aktionen die eigenen Hoffnungen und Phantasien seine eigene Phantasie zu aktivieren und damit selbst zum Künstler zu werden. 
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Die DVD gibt´s bei:
https://absolutmedien.de/film/491/Zeige+deine+Wunde+-+Kunst+und+Spiritualitaet+bei+Joseph+Beuys

Das Buch (Jubiläumsausgabe):
Rüdiger Sünner 
Zeige deine Wunde
Kunst und Spiritualität bei Joseph Beuys
Jubiläumsausgabe 
224 Seiten 
gebunden mit Schutzumschlag 
mit 30 Fotos 
13,5 x 21,5 cm
18,00 € (D) / 18,50 € (A) inkl. MwSt.
ISBN 978-3-95890-349-4

2 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort

  • Rainer Rappmann
    12. Juni 2021 17:50

    Lieber Michael, schön, Dein Kommentar! Der FIU-Verlag hat seinen seit 10 Jahren in Achberg: http://www.fiu-verlag.com Dank dir herzlich! Rainer

    Antworten
  • Wolfgang Püschel
    13. Juni 2021 19:33

    Ich muß des öfteren an die Aussage von Beuys DENKEN nachdem das Spülfeldprojekt in Hamburg 1983/1984 gescheitert ist.
    WIR SIND JETZT AUF DER SCHIENE DES WAHNSINNS. Joseph Beuys

    Mit Blick auf die aktuelle weltweite Rüstungsspirale kann ich diesem
    Gedanken nur beipflichten.

    "Wunde reiht sich an Wunde."

    Wolfgang Püschel Grevenburg,den 13.6.2021 / Germany

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