von Wolfgang G. Voegele
Aus der Sammlung von Nekrologen auf Rudolf Steiner, die 2024 im Info3-Verlag erschien, erscheint hier einen weiterer Nachruf des Kunsthistorikers und Journalisten Lothar Brieger-Wasservogel (1879-1949), der an die ersten Jahre Steiners in Berlin erinnert. Wasservogel schrieb u.a. Bücher über künstlerische Techniken wie Pastell und Aquarell. Seit 1914 war er Kunstkritiker großer Berliner Zeitungen wie der „BZ am Mittag“ und der „Vossischen Zeitung“, später auch für den Ullstein-Verlag. 1919 gab er das Werk „Zirkus Berlin. Bilder Berliner Lebens“ (Almanach Verlag), mit heraus, für das Tucholsky, Stefan Grossmann u.a. Beiträge lieferten. Als Jude musste er 1933 nach Schanghai emigrieren. Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte er nach Westberlin zurück. Unter den literarischen Talenten, die Rudolf Steiner um 1900 förderte, war Brieger einer der jüngsten.
Wasservogel überließ Rudolf Steiner 1904 für dessen Zeitschrift „Luzifer-Gnosis“ einen Aufsatz über Swedenborg zur Rezension, die kritisch ausfiel: Steiner monierte, dass Wasservogel Swedenborgs „astrales Schauen“ in einen „rationalistischen Pantheismus“ umdeute (GA 34, S. 495).
Am Tag nach Steiners Tod veröffentlichte Wasservogel folgenden Nachruf in der Berliner "BZ am Mittag.
"Aus Rudolf Steiners Zigeunerlager
Die Nachricht vom Tode Rudolf Steiners, des theosophischen Schulhauptes in Deutschland, wird in Berliner Kunstkreisen die Erinnerung an jenen jüngeren Rudolf Steiner wachrufen, der noch nicht mit dem amerikanischen Öle eines Stellvertreters der Übersinnlichkeit auf Erden gesalbt war, sondern sich in den Berliner Bohèmekreisen bewegte.
Erschauernd traten wir einmal alle vor ihn hin, als wir noch ganz jung waren. Aber wir erschauerten nicht vor seiner mystischen Würde, von der er selbst damals noch nichts ahnte, sondern vor seiner Eigenschaft als Herausgeber des 'M a g a z i n s f ü r L i t e r a t u r'. Die jetzige Generation ahnt gar nicht, was das damals bedeutete. Das 'Magazin' war die Pforte zum Eintritt in die literarische Welt, und Rudolf Steiner hielt den Schlüssel zu ihr in der Hand. Dieser Schlüssel war nicht von Gold, denn Honorar zahlte das 'Magazin für Literatur' grundsätzlich nicht. Aber der Herausgeber drückte einem die Hand, hiess einen als vielversprechenden jungen Schriftsteller willkommen, und wenn man nach ein paar Wochen mit dem Belegexemplar bewaffnet im Café des Westens erschien, war man aufgenommen. Man konnte auf dieses Belegexemplar hin dem Oberkellner die erste Tasse schwarzen Kaffee schuldig bleiben.
Papst war Rudolf Steiner damals schon, wenn auch kein theosophischer. Seine Herrschaft erstreckte sich nur über die erste Etage im Nollendorfkasino, wo die V e r e i n i g u n g d e r K o m m e n d e n tagte, die Ludwig J a c o b o w s k i einmal begründet hatte. (Mit Jacobowski gab Steiner in seinen literarischen Tagen auch an der Münchener 'Gesellschaft' heraus [sic!].) Auffällig dünn, fast immer schwarz gekleidet, mit einem halb ironischen und halb freundlichen Lächeln auf den Lippen ging hier Rudolf Steiner unter den zukünftigen Grossen der Literatur, der bildenden Kunst und der Musik herum und bemühte sich, die eine Mark Monatsbeitrag einzukassieren.
Steiner selbst war damals noch wenig hervorgetreten. Er hatte sich ein wenig mit Goethe beschäftigt, und den einen oder anderen Klassiker herausgegeben und sprach wohl hier und da einmal geheimnisvoll von seiner noch im Werden begriffenen grossen Lebensarbeit über Goethe. Aber rechtes Zutrauen hatte wohl niemand zu ihr.
Dann war Steiner jahrelang so gut wie verschollen, bis er dann eines Tages in ganz veränderter Gestalt wieder da war: als Meister und Magus aller heimlichen Wissenschaften.
Will man der Wahrheit die Ehre geben, so muss man sagen, dass von den alten Bekannten Rudolf Steiners aus seinen literarischen Jahrzehnten wohl nicht einer jemals an seine Berufung oder Sendung geglaubt hat. Ja, wir glaubten nicht einmal, dass er selbst an sie glaubte. Und wenn wir von seinen Erfolgen lasen, sahen wir ihn wieder vor uns, wie er einst unter den 'Kommenden' herumgegangen war, dünn, schwarz, mit einem undefinierbaren Lächeln auf den Lippen.
Und es sollte uns nicht wundern, wenn er mit diesem merkwürdigen Lächeln seiner jüngeren Jahre auf den dünnen Lippen gestorben wäre."
Quelle: Lothar Brieger: Aus Rudolf Steiners Zigeunerlager, in: BZ am Mittag, Berlin, Nr. 89, 31.3.1925
Foto-Collage tdz/gemeinfrei