von Wolfgang G. Vögele
Geheimnisvolles und schwer Durchschaubares fördert bekanntlich die Gerüchtebildung. Ein ganzes Roman- und Filmgenre lebt von der Lust an Verschwörungen und deren detektivischer Enthüllung.
Ein bekannter Fall von Mystifikation war der sogenannte Taxil-Schwindel. Der französische Journalist und Hochstapler Léo Taxil hatte Ende des 19. Jahrhunderts hohe Würdenträger der katholischen Kirche hinters Licht geführt, indem er behauptete, hinter der Freimaurerei stünden Satanisten. Hierfür publizierte er fingierte Augenzeugenberichte von geheimen Riten, z.B. schwarzen Messen. Taxil, der von Papst Leo XIII. in Audienz empfangen worden war, klärte später den Schwindel auf. Die diskrete Gesellschaft der Freimaurer blieb weiterhin Gegenstand von allerlei Spekulationen.
Seit ihrer Entstehung wurden auch über die anthroposophische Bewegung Gerüchte verbreitet. Man denke an das dubiose "Schwarzbuch Anthroposophie", das vorgab, finstere Geheimnisse zu enthüllen und wegen unhaltbarer Behauptungen und Verleumdungen bald wieder vom Buchmarkt verschwinden musste.
Als sich kurz vor dem Ersten Weltkrieg Anthroposophen auf dem Dornacher Hügel bei Basel ansiedelten, kursierten in der einheimischen Bevölkerung mancherlei Gerüchte über die fremden Kolonisten. So wurde der Bau eines buddhistischen Klosters vermutet. Hinter der hohen Mauer um das Anwesen, so wurde in der Gegend erzählt, liefen die Bewohner nackt herum.
Max Kully, der katholische Pfarrer im benachbarten Arlesheim, schien Genaueres zu wissen. Der entstehende Bau diene dem Okkultismus, dessen Anhänger eine Gefahr für die einheimische Christen darstellten. In seiner Enthüllungsschrift "Die Geheimnisse des Tempels von Dornach" behauptete er, in diesem Bau befänden sich unterirdische Räume, die geheimen Feiern dienten. Weder die Arbeiter noch die Besucher hätten dort Zutritt. Nicht einmal die "Feuerschau" werde hineingelassen. Der deutsche Philosoph Hans Leisegang behauptete öffentlich, in Dornach würden "unterirdische Kulte" mit kerzentragenden Jungfrauen in weißen Gewändern veranstaltet.
Als der Anthroposoph Ernst Uehli einmal eine Steuerkommission, die das Goetheanum zu besichtigen wünschte, durch den Bau führte, nahm er die Gelegenheit wahr, diesen Gerüchten entgegenzutreten:
"Nachdem ich ihnen den Bau in allen Einzelheiten bis zur Dachluke hinauf gezeigt und erklärt hatte, sagte ich, die Gerüchte, welche unter der Bevölkerung zirkulieren über die unterirdischen Räume, seien mir wohlbekannt und ich wisse auch, wer ihr Urheber sei, daher lade ich sie ein, sämtliche unterirdische Räume mit mir zu inspizieren, damit sie sich selbst überzeugen könnten, wie es da unten aussehe. Wir stiegen also die Treppen hinunter und ich zeigte den Herren zunächst die Klosettanlage. Dann führte ich sie in die Räume direkt unter dem Zuschauer- und dem Bühnenraum. Es war bereits alles erleuchtet, da Arbeiter mit der Hauptrohrleitung der Ventilation beschäftigt waren. Ich legte Wert darauf, daß die Besucher in jeden Winkel hineinschauten. Ich zeigte ihnen den Schacht für den Aufzug des Rednerpultes und ließ den Aufzug funktionieren. Die Besucher sahen in diesem geheimnisvollen Raume nichts, als was man in solchen Souterrains selbstverständlich findet, Rohrleitungen, Kabel, die massiven Betonsockel für den Oberbau. Unter allgemeiner Heiterkeit verließen wir diese ‚mystischen‘ Räume." [1]
Weitere Denunziationen folgten. Der Basler Schriftsteller C.A. Bernoulli trug erfolgreich dazu bei, die geplante Einbürgerung Steiners in der Schweiz zu verhindern, indem er sich als Informant der Bundesanwaltschaft in Bern betätigte. Das Goetheanum, so versicherte er, sei ein Ableger der internationalen Hochgradfreimaurerei, insbesondere des Ordens "O.T.O", der einen "Sexualkommunismus" vertrete. Auch seien im Areal des Goetheanums heimlich Goldschätze aufgehäuft. In den 1920er Jahren galt Rudolf Steiner in rechten Kreisen bekanntlich als Agent der jüdisch-freimaurerischen Weltverschwörung.
Auch im 21. Jahrhundert sorgen die Aktivitäten der Anthroposophen für Irritationen. Was geht hinter den Kulissen der Waldorfschulen vor? Waltet hinter der humanistischen Fassade ein menschenverschtendes Regime? Gehören Tarnen, Täuschen und Tricksen zur Strategie der Anthroposophen? Übt hier eine geschlossene Subkultur mittels Lobbygruppen Einfluss auf die Politik aus?
Manches Geheimnisvolle um Rudolf Steiner entpuppte sich als banale Tatsache, wie eine Anekdote zeigt, die er selbst erzählte: "Ich bin einmal mit mehreren Persönlichkeiten in der Eisenbahn gefahren. Man sprach darüber, wann man ankommen würde. Der Schaffner wurde gefragt, und er sagte eine Zeit. Ich wusste, dass das nicht stimmt, und sagte eine andere Zeit. Die Leute, die das hörten, sagten untereinander: ‘Das hat er okkult erforscht!‘ (Lachend:) Ich hatte einfach einen Fahrplan in der Tasche, in dem ich nachgesehen hatte."[2]
Es gehört inzwischen zur Normalität, unliebsame einzelne Persönlichkeiten, Gruppen oder politische Parteien einer hidden agenda zu bezichtigen. Wer kann schon nachprüfen, ob irgendwelche Schwurbler tatsächlich Nebelkerzen geworfen haben, um etwas zu verschleiern? Vielleicht sollte man versuchen, die Devise des Buchautors Albrecht Müller von den Nachdenkseiten zu befolgen: "Glaube wenig, hinterfrage alles, denke selbst."
[1]"Anthroposophie", Nr. 22 vom 30. November 1922, Sp. 6
[2] Wolfgang G. Vögele (Hg.): "Sie Mensch von einem Menschen!" Rudolf Steiner in Anekdoten. Basel 2012, S. 172.






