1925. Ein China-Experte über Rudolf Steiner 

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von Wolfgang G. Voegele

Wer war Richard Wilhelm?

Wilhelm studierte in Tübingen Theologie, wurde 1899 als Missionspfarrer in die deutschen Kolonie Quingdao (Tsingtau) gesandt, wo er intensive chinesische Studien trieb und eine Schule einrichtete. 1920 kehrte er nach Deutschland zurück. 1922-1924 arbeitete er wiederum als wissenschaftlicher Berater in der deutschen Gesandtschaft in Peking und lehrte an der Pekinger Universität. 1924 wurde er als Honorarprofessor auf den neugegründeten Lehrstuhl für chinesische Geschichte und Philosophie nach Frankfurt/Main berufen, wo er 1927 zum ordentlichen Professor ernannt wurde und das China-Institut ins Leben rief. 

Zu seinem Freundeskreis zählten bekannte Gelehrte und Philosophen wie Martin Buber, C.G. Jung, Albert Schweitzer, aber auch Schriftsteller wie Tagore, Graf Keyserling, Hermann Hesse und Hans-Hasso von Veltheim-Ostrau. Unter dem Eindruck der Ablehnung, den sein Schwiegervater Blumhardt durch die Kirche erfuhr, hatte sich Richard Wilhelm immer mehr von dieser abgewandt. Nach dem ersten Weltkrieg waren ihm die Lehren eines Kungfutse (Konfuzius) zur geistigen Heimat geworden. So schreibt er einmal:

"Im Menschen ist die göttliche Kraft, die neue Welten schaffen kann. Der Mensch ist heute berufen zum höchsten Repräsentanten der Gottheit ![…] Dieser kosmische Mensch bildet mit Himmel und Erde die grosse Dreiheit. Und er ist Maß und Mitte! [1]

Aufgrund seiner gediegenen Kenntnis asiatischer Spiritualität war Richard Wilhelm bemüht, ganz im Sinne des chinesischen Klassikers Me Tsai (Micius), auch in Rudolf Steiner eine jener grossen prophetischen Gestalten zu erkennen, die in allen Völkern und zu allen Zeiten kulturschöpferisch wirken.

Rudolf Steiner als Prophet und Lebensgestalter

"In diesem Zusammenhang wäre auch die Theosophie [2] zu erwähnen. Freilich ist diese Bewegung sehr reich an Mitgliedern, die, ohne direkte okkulte Begabung, in ihr eben einfach einen Ersatz für die bisherigen Religionsformen sehen, der für sie interessanter und befriedigender ist als die altgewordenen Dogmen. Allein die Theosophie hat durch Rudolf Steiner eine Weiterentwicklung erfahren, die in einer Bearbeitung der Frage Über modernes Prophetentum nicht übergangen werden darf. Rudolf Steiner trat als Prophet auf in dem vollen Sinn, dass er auf Grund okkulter Schau Einblicke in die Tiefen des Kosmos zu tun behauptete, die Aufschlüsse enthalten über das gesamte Weltgeschehen und die Gestaltung der Vergangenheit und Zukunft, Aufschlüsse, die von höchster Bedeutung sein müssten, wenn sie tatsächlich auf der Grundlage einer nachprüfbaren und nacherlebbaren Wirklichkeit beruhen, die er seinem prophetischen Schauen in der Form der Geisteswissenschaft gegeben hat. Hier hätten wir also das Ziel erreicht: die Prophetie als Wissenschaft; der Blitz ist zum elektrischen Kraftstrom umgewandelt, der dem Menschen für seine Zwecke zur Verfügung steht, der Prophet ist nicht länger das willenlose Werkzeug einer höheren Macht, die durch ihn redet, wann und wie sie will, die ihn benützt oder verwirft, wie sie will, sondern der Prophet ist ein freier Herr seiner Kräfte, die er zur Zukunfts- und Tiefenschau benützt, wie er will. So hat Steiner aus seinen Erlebnissen heraus die Akaschachronik beschrieben, aus der er alles abgelesen hat, was in Vergangenheit und Zukunft nützlich und gut zu wissen war.

Steiner war noch mehr als Prophet. Er war Lebensgestalter. Durch seine eurhythmische Tanzschule, durch seine okkulte Neukunst des Goetheanum, durch seine Lehre von der Dreigliederung, durch seine Astoria-Unternehmungen (Schule u.a.), durch seine Aktiengesellschaft 'der kommende Tag' und schliesslich durch den Segen,, den er der Rittelmeyerschen Christengemeinschaft gegeben hat, hat er es in umfassendem Masse unternommen, lebendig wirkend einzugreifen in die Menschheitsgestaltung der Zukunft. Man wird diesem Bemühen die Grösse nicht abstreiten dürfen. Vielleicht war die Unfehlbarkeit und Unwandelbarkeit, die er sich zuschrieb, angesichts der Tatsachen etwas stark pointiert. Aber er hat seine Zeit verstanden. Es gab Momente, da er vom höchsten Wellenkamm der Zeitströmung getragen wurde, da er die grössten Säle Berlins füllte, da ihm das Berliner Publikum — ausgesucht das Berliner Publikum — ohne Witze zu machen mehrere Stunden lang zuhörte und Beifall klatschte, wie es sonst nur bei Musikern üblich ist, obwohl das, was er vortrug, trockenste Theorie war und sicher von drei Vierteln der Anwesenden nicht verstanden werden konnte. Er hat, was ganz besonders hervorgehoben werden muss, unter seinen Schülern Männer wie Christian Morgenstern und Friedrich Rittelmeyer und manche andere gehabt, die es für jeden aufmerksamen Beobachter nötig machen, mit Achtung von dem Mann zu sprechen, den diese als Meister anerkannten.

Dennoch werden wir unser Urteil nicht trüben lassen dürfen. Rudolf Steiner bedeutet einen titanischen Versuch, das Prophetentum zu systematisieren, es lernbar zu machen. Aber dieser Versuch wirkt nicht überzeugend. Zu seinen treuesten Schülern gehörte der deutsche Feldmarschall Moltke, und man kann nicht von ihm behaupten, dass ihm bei seiner Art der Kriegsführung übernatürliche Kräfte zur Verfügung standen. Auch die Dinge in Oberschlesien haben sich recht sehr anders entwickelt, als Steiner erwartet und gehofft hatte. Mit dem Brand des Goetheanum hat die Bewegung, die von ihm ausging, schliesslich einen tieferen Schlag erlitten, als die Getreuen unter seinen Nachfolgern sich eingestehen wollen.

Das Prophetentum Steiners hatte einen so ungeheuren Erfolg, weil es genau der Situation von 1919 entsprach. Damals war für die Deutschen alles zusammengebrochen. Sie hatten ihren Gott, ihre Religion, ihren Staat, ihre Lebenshoffnungen, ihr Selbstbewusstsein verloren. Steiner hatte alles, was ihnen fehlte. Er hatte vor allem das Bewusstsein der Absolutheit. Hier war der ruhende Pol in der Erscheinungen Flucht. Ihm strömte man zu. Aber gerade, dass er in jenem Tiefpunkte der deutschen Geschichte so zeitgemäss war, beschränkt seine Wirkung in der Zukunft, wenn die Verhältnisse anders sein werden, wie es seine Wirkung in der Vergangenheit beschränkt hatte. Man kann auf einem Wellenkamm nicht dauernd reiten. Sachlich wird man wohl abschliessend dahin urteilen dürfen, dass die unleugbaren Gaben auf übersinnlichem Gebiet, die er besass, eben letzten Endes doch persönlich waren. Er hat sie nicht lehrbar machen können, wie man Chemie oder Maschinenbau lehrbar machen kann. Damit ist das Problem Steiners 'Ist Prophetentum lehrbar ?', wohl als negativ entschieden zu bezeichnen." [3]


Foto: Bundesarchiv, Bild 147-0209 / CC-BY-SA 3.0

1. Richard Wilhelm: Der Mensch als Maß und Mitte (1927), zit. nach: Werner Jäckh, Blumhardt Vater und Sohn und ihrer Welt. Stuttgart: Steinkopf 1977, S. 140 ff.
2. Bis in die 1920er Jahre wurde die Anthroposophie vielfach «Theosophie» genannt.
3. Richard Wilhelm, Modernes Prophetentum in Deutschland, in: Die Tat, 17. Jg., Heft 8, November 1925, S. 561-569.

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